Golden Nica
DAWN Avatar Robot Cafe ver.β
Ory Yoshifuji / Ory Lab (JP)
Ory Laboratory hat nicht nur die Avatar-Roboter OriHime und OriHime-D entwickelt, die die Benutzer*innen unabhängig von Alter, Geschlecht oder Behinderung als ihren Avatar fernsteuern können, sondern auch das Konzept des DAWN Avatar Robot Café, in dem Benutzer*innen arbeiten oder virtuelle Besuche via Roboter machen können. Über die Avatar Guild, die Personalvermittlungsagentur des Unternehmens, können die Benutzer*innen eine Beschäftigung suchen, was den Menschen die Möglichkeit gibt, in der Gesellschaft aktiv zu bleiben. Ziel ist es zu zeigen, dass auch Menschen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, über einen Avatar-Roboter bequem von zu Hause aus an körperlichen Arbeiten und am Kundendienst teilnehmen können, sofern ihnen die richtigen Hilfsmittel zur Verfügung stehen.
Die Entwicklung von Avatar-Robotern ist die Grundlage für dieses bahnbrechende Projekt, das die Barriere zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitgebenden beseitigt. Es bietet einen Ort, wo Menschen mit Behinderungen auf Arbeitssuche gehen, und Ausbildungsplätze finden können, und viele von ihnen haben tatsächlich feste Arbeitsplätze in konventionellen Unternehmen gefunden. Bei einem Besuch wird deutlich, dass das Café so konzipiert ist, dass der Service mit Hilfe von Robotern eine menschliche Note erhält. Die Roboter dienen als Medium für eine lebendige Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, und die bisherige Erfahrung zeigt, wie wertvoll dies ist.
Für diejenigen, die sich aufgrund physischer oder psychischer Probleme, früherer Unfälle oder Ähnlichem nicht nach draußen trauen, bietet der Avatar-Roboter OriHime eine weitere Möglichkeit, sich körperlich auszudrücken und zu handeln.
OriHime wird von „Pilot*innen“ ferngesteuert, die über am Roboter angebrachte Kameras, Lautsprecher und Mikrofone mit der Außenwelt interagieren. Auf diese Weise ermöglichen die Roboter selbst gelähmten Pilot*innen virtuelle Ausflüge, indem sie ein Eingabegerät mit Sichtkontakt nutzen, um mit anderen zu sprechen.
Jurystatement
Technologie im ursprünglichen Sinne hat eine befähigende Funktion. Roboter als Avatare, die einen barrierefreien Zugang zur Gesellschaft ermöglichen, sowie das Konzept eines futuristisch anmutenden Cafés kombinieren das Beste aus der analogen und der digitalen Welt, um Inklusion und das Zusammenleben und -wirken von Menschen neu zu definieren. Das Avatar Robot Café DAWN ver.ß regt uns dazu an, auf neuartige Weise darüber nachzudenken, wie sozio-technologische Arrangements (marginalisierten) Menschen die Teilnahme an Gemeinschaften ermöglichen können. Gerade in Zeiten, in denen Menschen in kommerzialisierte und nicht nachhaltige virtuelle Welten verführt werden, sollten wir über andere Formen von resilienten gemeinschaftsfördernden Arrangements nachdenken. Hinter dem Kaffeehaus selbst steht ein nachhaltig angelegtes und zukunftsorientiertes Wirtschaftskonzept. Sowohl in Bezug auf die selbstverständliche Integration von sozial schwachen Gruppen in die Gesellschaft als auch in Bezug auf Design, Kulinarik und die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist das Avatar Robot Cafe DAWN ver.β ein herausragendes Projekt und aus Sicht der Jury ein Paradebeispiel dafür, was eine digitale Gemeinschaft leisten und erreichen kann.
Credits
Ory Lab Inc. https://orylab.com/en/#about
OYAMATSU Design Studio https://oyamatsu.co.jp/en/index.html
TASUKI Inc.
Gesponsert von: NTT Gesellschaft, https://group.ntt/en/corporate/overview; Biogen Japan Ltd. https://www.biogen.co.jp; Mitsui Fudosan Co., Ltd., https://www.mitsuifudosan.co.jp/english/corporate/about_us/outline; Crowdfunding „CAMPFIRE“ (2.156 Teilnehmer*innen, ¥ 44.587.000), https://camp-fire.jp/projects/view/405051
https://dawn2021.orylab.com/en/
https://orylab.com/en/
https://youtu.be/vj1z6HEAkYY
Award of Distinction
Families For Freedom
Amina Khoulani (SY)
Wir sind eine von Frauen geführte Bewegung von Familien, die die Freilassung aller willkürlich inhaftierten und gewaltsam vertriebenen Syrer*innen fordert. Wir sind 250 Mitglieder in Ortsgruppen in Syrien, im Vereinigten Königreich, in Deutschland, in der Türkei und im Libanon. Wir haben uns mit hochrangigen politischen Entscheidungsträgern bei den Vereinten Nationen und führenden Geberländern getroffen, um uns für Gerechtigkeit einzusetzen. Wir organisieren öffentliche digitale Kampagnen und fordern Freiheit für alle Söhne und Töchter des Landes. Wir wenden uns gegen das gewaltsame Verschwindenlassen und die willkürliche Inhaftierung durch das syrische Regime und alle Konfliktparteien. Wir wollen die Öffentlichkeit mobilisieren, um alle Seiten unter Druck zu setzen, unseren Forderungen nachzukommen.
Unsere Forderungen
Als Familien fordern wir die sofortige Freilassung unserer unrechtmäßig inhaftierten Angehörigen. Und bis dahin appellieren wir ans syrische Regime, an alle Kriegsparteien und alle, die sie beeinflussen können:
- unverzüglich eine Liste mit den Namen aller Inhaftierten, ihrem aktuellen Aufenthaltsort und Status zu veröffentlichen und sofort Folter und Misshandlung einzustellen. Im Falle des Todes eines Häftlings müssen den Familien eine Sterbeurkunde sowie ein Bericht über die Todesursache und Angaben zum Ort der Beerdigung vorgelegt werden;
- die syrische Regierung zu drängen, internationalen humanitären Organisationen die sofortige Lieferung von Lebensmitteln und medizinischer Hilfe zu gestatten und internationalen Menschenrechtsgruppen Zugang zu den Hafteinrichtungen zu gewähren, um die Lebensbedingungen genau zu überprüfen, damit gewährleistet ist, dass die zivilen Hafteinrichtungen gesunden Lebensstandards entsprechen;
- die Abschaffung von Sondergerichten durchzusetzen, insbesondere von Feld-, Kriegs- und Antiterrorismusgerichten, und faire Prozesse unter Aufsicht der Vereinten Nationen durchzusetzen;
- alle Verantwortlichen auf allen Seiten, insbesondere die syrische Regierung, für die Verstöße, die sie gegen die willkürlich Inhaftierten und ihre Familien begangen haben und weiterhin begehen, zur Rechenschaft zu ziehen, um einen wesentlichen Schritt in Richtung Gerechtigkeit zu tun.
Jurystatement
Families for Freedom ist eine Gemeinschaft syrischer Familien, die Freiheit für alle Söhne und Töchter des Landes fordern, für die Hunderttausenden von Syrer*innen, die inhaftiert oder verschwunden sind, von denen die meisten in Gefängnissen des syrischen Regimes sitzen, aber auch in Gefängnissen anderer Parteien dieses jahrzehntelangen Krieges. Die Jury ist besonders beeindruckt vom Engagement, mit der diese Kampagne betrieben wird, von der Entschlossenheit dieser von Frauen, zumeist Müttern, angeführten Bewegung zur Befreiung ihrer Angehörigen. Sie haben ihre Forderungen gut formuliert und nutzen beispielhafte Methoden der Interessenvertretung und des Drucks, um mit verschiedenen Seiten in Europa und darüber hinaus zu kommunizieren, die mehr tun könnten, um diesen elenden Kreisläufen menschlichen Leids ein Ende zu setzen. Ihr kollektives Handeln, ihr gemeinsames Ziel und ihre einheitliche Stimme geben ähnlichen Gemeinschaften in Not reichlich Hoffnung. Sie organisieren sich in mehreren Ländern, im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Deutschland, Syrien und im Libanon, und setzen sich auch dort für Hoffnung ein, wo es so wenig gibt, an das man sich klammern könnte. Sie verdienen unseren Respekt, unsere Unterstützung und unsere Bewunderung.
Credits
Award of Distinction
Strong Hair
Yatreda (ET)
Strong Hair ጠንካራ ፀጉር ist eine Sammlung von hundert geloopten Porträts, die die Vielfalt und Kraft afrikanischer Haare mit der Blockchain vereinen.
Das Projekt präsentiert verschiedene ethnische Gruppen aus Äthiopien, die für das kulturelle Mosaik des Landes mit seinen über 80 verschiedenen ethnisch-linguistischen Gruppen stehen. In Äthiopien kann man die Zugehörigkeit einer Person zu einer Ethnie oder einem Stamm oft schon am Aussehen erkennen, und die Haartracht kann sowohl ein soziales Signal als auch ein Statussymbol sein. Viele lokale afrikanische Frisuren sind im Verschwinden begriffen. Wenn die Menschheit eine Frisur verliert, verliert sie eine visuelle Sprache, die vielleicht nie mehr wiederbelebt werden kann und von einer Tausende Jahre alten Kultur hervorgebracht wurde.
Jede Frisur wurde mittels einer selbst gebauten Metallplattform mit einem um 360 Grad drehbaren Kameraarm aufgenommen. Die Plattform wurde gänzlich aus leicht beschaffbaren Materialien hergestellt, um örtliche Gemeinschaften zu inspirieren, alles von Hand herzustellen. Die Videos wurden dann als Loop abgespeichert, sodass die Wiedergabe ohne erkennbaren Anfang oder Ende erfolgen kann.
Die Sammlung wurde als Non Fungible Token (NFTs) in die Ethereum-Blockchain „eingeprägt“, wobei die Videodateien dauerhaft in einem verteilten Computernetzwerk gespeichert wurden. Auf diese Weise wurden die wertvollen Kulturgüter auf einer vollständig dezentralisierten Blockchain bewahrt. Kunstsammlerinnen aus aller Welt, auch aus der äthiopischen Diaspora, nahmen an den NFT-Auktionen teil und sammelten die Strong Hair-Stücke in ihren dezentralen Krypto-Wallets. Mithilfe eines benutzerdefinierten intelligenten Vertrags wurden zehn Prozent der Krypto-Einnahmen automatisch auf eine separate Geldbörse, die „Yatreda Ekub“, verteilt, die anderen afrikanischen Künstlerinnen dabei hilft, die Gebühren für die Prägung ihrer ersten Kunstwerke zu bezahlen und sinnvolle Kunstwerke von anderen auf der ganzen Welt zu sammeln.
Jurystatement
Haare können gewellt, gelockt, gerade, dick und üppig oder kurz, dünn und schütter sein. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des persönlichen und politischen Selbst und können soziales Signal und Statussymbol sein. In Äthiopien sind die Frisuren Skulpturen voller Bedeutung. Anhand ihrer Haare können die Menschen ihre Abstammung und die Merkmale ihrer Kultur, ihres Volks oder ihres Stammes erkennen. Wenn wir eine Frisur verlieren, verlieren wir eine visuelle Sprache, einen Ausdruck, der über Tausende von Jahren entstanden ist und sich vielleicht nie wiederholen wird.
Das Projekt Strong Hair will diese Kultur der Frisuren vor dem Verlust bewahren, die für die lokalen Gemeinschaften so wichtig ist. Es will aber nicht nur bewahren, was übrig geblieben ist, indem es eine Porträtausstellung organisiert, um farbige Frauen zu ermutigen, ihre Haartracht zu zelebrieren, sondern auch, um diese Stile zurückzubringen – nicht nur für Äthiopien, nicht nur für Afrika, sondern für die ganze Welt. Das Projekt zeigt, wie die Blockchain-Technologie durch den Einsatz von NFTs dazu beitragen kann, ein kulturelles Erbe, eine kulturelle Identität zu bewahren und gleichzeitig lokale Gemeinschaften zu stärken. Diese Frisurenstile können zelebriert und bewahrt werden und der Welt als eine Ressource und ein Gut präsentiert werden, die für Äthiopien und jeden anderen Ort nützlich sind.
Credits
Fotografie, Regie, Kamera: Kiya Tadele
Logistik und Produktion: Nibret Adem
Recherche: Roman und Suzy Tadele
Technische Assistenz: Nebiyu Bekele
Nachbearbeitung: Kiya Tadele und Joey Lawrence
https://foundation.app/collection/strong
STRONG HAIR Motion Portrait Gallery: https://foundation.app/collection/strong
Hinter den Kulissen (Twitter): https://twitter.com/yatreda/status/1491924112465444864
Hinter den Kulissen (YouTube): https://www.youtube.com/watch?v=12Km5-ZSjBA
Honorary Mention
Atomfa (and other stories)
Joanna Wright (GB)
Atomfa (and other stories) ist eine langfristig angelegte, fortlaufende, iterative, interaktive Dokumentation mit starkem Landschaftsbezug, die Bilder, Erinnerungen und Fragen aus den letzten Tagen eines Kernkraftwerks auf dem flachen Land aufgreift – von lokalen Mythologien und dem Versprechen des Atomzeitalters bis hin zum Weltraumzeitalter, von der Vergangenheit über die Gegenwart bis weit in die Zukunft.
Vor über sechzig Jahren kam die Atomenergie in die Berge des ländlichen Nordwales. Jetzt bauen die Einwohner*innen von Trawsfynydd das von ihren Eltern und Großeltern errichtete und betriebene Kernkraftwerk ab – eine Aufgabe, die nicht zu unseren Lebzeiten abgeschlossen sein wird. Das Projekt, das über einen einzigartigen Zugang zu Archivmaterial aus dem Kraftwerk selbst verfügt, basiert auf einem ko-kreativen Prozess, bei dem in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gemeinschaften, die im Umfeld des Kraftwerks leben und arbeiten, neue und künftige Archive für den Standort geschaffen werden.
Jurystatement
Das Wort „Entwicklung“ erinnert an schnelles Wachstum und Unendlichkeit und ist Ausdruck der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch was geschieht, wenn die vor uns liegende Zukunft diesen Hoffnungsschimmer in eine Ruine verwandelt hat, die in die Vergangenheit verbannt werden muss? Wie beschreibt man das Erbe der Entwicklung für diejenigen, die eine Zukunft erben, die abgebaut werden soll?
Das Projekt Atomfa von Joanna M. Wright spielt auf diese komplexen Fragen an, indem es die Schließung des Kernkraftwerks Trawsfynydd in Wales in Zusammenarbeit mit ehemaligen und aktiven Arbeiter*innen des Standorts anhand vieler Medien dokumentiert. Durch die Schaffung eines kollaborativen Archivs mit Videos, mündlichen Erzählungen und Texten lädt es die Gemeinschaft, die damals die Entwicklung des Kernreaktors und heute seine Stilllegung unterstützt hat, ein, die Geschichte dieses Übergangs zu erzählen. Darüber hinaus bietet es Raum für die komplexen und beängstigenden Fragen, die wir uns in Bezug auf die Zukunft, die wir aufbauen, stellen müssen. Das Archiv dient sowohl als Ressource als auch als Basis für einen zaghaften, aber dringend notwendigen Dialog über diese
Fragen.
Credits
Mitwirkende und Dank an: Ysgol Bro Hedd Wyn, Naomi Jones, Trawsfynydd Site Stakeholders Group, Gwynedd Archives: Meirionnydd Record Office, Alex Ashcroft, Ed Edwards, Margaret Matheson, Isgoed Williams, Rory Trappe und an die frühere und aktuelle Belegschaft und die Nachbar*innen des Kraftwerks Trawsfynydd, die Geschichten, Bilder, Ideen und Unterstützung beigesteuert haben.
Mit Unterstützung von: CyMAL: Museums Archives and Libraries Wales, Parc Cenedlaethol Eryri, Ffilm Cymru Wales / BFI Horizons Fund, Arts Council Wales, iFLAB, MIT Open Documentary Lab & Co-Creation Studio, British Council Film, Arts Territory Exchange.
www.atomfa.com
http://joannamwright.com/home/index.php/portfolio-item/atomfa-and-other-stories
Honorary Mention
Flyerservice Hahn
Zentrum für politische Schönheit (DE)
Das Zentrum für politische Schönheit verkörpert eine radikale Form des Humanismus. Es ist eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Größe. Das Zentrum verschmilzt die Macht der Fantasie mit der Macht der Geschichte. Grundüberzeugung ist, dass die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss. Wir gestalten den politischen Widerstand im 21. Jahrhundert und wappnen die Realität mit moralischer Fantasie und der Kraft der Geschichte. Widerstand ist eine Kunst, die verletzen, irritieren und verunsichern muss. Wir experimentieren mit den Gesetzen der Realität und füllen den Raum, den früher die öffentlichen Intellektuellen besetzt haben: das moralische Gewissen.
Im Superwahljahr 2021 gründete das Zentrum für Politische Schönheit den Flyerservice Hahn: den besten Flyerservice Europas! Unglaublich, aber wahr: Eine nicht existierende Firma ohne reale Geschäftsadresse, Handelsregistereintrag und Steuernummer machte allen AfD-Verbänden ein unschlagbares Angebot, das sie nicht ablehnen konnten. Ein fiktives Unternehmen akquirierte Aufträge in Millionenhöhe. Warum sollte eine Superpartei und echte „Alternative“ für Deutschland ihre Flyer auch selbst verteilen, wie all die Idioten der Altparteien? Das Ergebnis: 85 faule Orts-, Kreis- und Landesverbände der AfD lieferten in ein bundesweites Netzwerk von Logistikzentren unseres Weltmarktführers der Nicht-Verteilung. Am Ende befanden sich in unserem Lager fünf Millionen Flugblätter. 72 Tonnen AfD-Müll. Herzlich willkommen beim Flyerservice Hahn!
Die Öffentlichkeit konnte das AfD-Recyclingzentrum in der Mitte Berlins besuchen. Tausende von Investoren freuten sich, einen Flugblattservice zu unterstützen, dessen oberste Priorität die Unzufriedenheit seines besten (und einzigen) Kunden ist. Die Shareholder des Unternehmens wurden eingeladen, ein einzigartiges Bad in frischer Nazi-Propaganda zu nehmen, die mit ihrer Hilfe davor bewahrt wurde, den Wahlkampf zu verseuchen. Sie konnten aus erster Hand erfahren, was sonst den Weg in ihre Briefkästen gefunden hätte. Am Ende wurde der Müll dorthin gebracht, wo er hingehört – in eine Schredderanlage. Dort wurde er schließlich zu Toilettenpapier verarbeitet.
Jurystatement
Die Jury zeichnet das Projekt des Zentrums für Politische Schönheit aus, weil es eine neue, originelle Interpretation der Beziehung zwischen Fiktion, Realität und Geschichte im politischen Aktivismus darstellt. Die Gruppe ist bekannt für ihre kontroversen Aktionen und ihren Modus Operandi. Ihre eindringlichen Aussagen sind gut durchdacht und sorgfältig formuliert. Mit ihren Interventionen zeigen sie immer wieder, wie schlagkräftig man sein kann und sollte, wenn es um Humanismus geht. Das Zentrum spielt eine wichtige Rolle in der aktuellen politischen Sphäre, um die Öffentlichkeit für die gefährlichen Veränderungen zu sensibilisieren, die sich in ganz Europa vollziehen.
Credits
https://politicalbeauty.de
https://politicalbeauty.de/flyerservice-hahn.html
Honorary Mention
Sisyphus
Kachi Chan (HK)
Sisyphus ist eine Kunstinstallation mit zwei Robotern, die in einer endlosen zyklischen Interaktion stehen. Kleinere Roboter bauen Ziegelbögen auf, während ein riesiger Roboter sie wieder einreißt. Dieses Robotersystem treibt ein Narrativ von Konstruktion und Dekonstruktion voran.
Benannt ist das Projekt nach einer Figur aus der griechischen Mythologie, die dazu verdammt ist, jeden Tag einen Felsbrocken auf einen Hügel zu schieben, um ihn anschließend wieder hinunterrollen zu sehen. Sisyphus ist ein Kommentar zum gegenwärtigen soziopolitischen Klima, in dem ständig Systeme der Autorität und des Widerstands aufeinanderprallen. Die Wiederholung wird in diesem Stück durch die Interaktion zweier gegensätzlicher Robotersysteme erforscht – eines ist klein und wendig, das andere mächtig und unterdrückerisch –, wobei der griechische Sisyphos eines von beiden oder auch beide repräsentiert.
Trotz des Größenunterschieds zwischen den beiden Robotern kennt der Kampf kein Ende. Der Riesenroboter macht keine Zugeständnisse und fährt fort, die Backsteinbögen zu zerstören. Doch selbst wenn sie zerstört sind, bauen die kleinen Roboter neue Bögen aus Ziegelsteinen und manifestieren damit einen kollektiven Widerstand durch individuelle, autonome Aktionen. Hier wird der Status quo kontinuierlich durch kleine, verstreute Aktionen in Frage gestellt, die die absolute Macht des Riesenroboters stören. Die Beharrlichkeit der kleinen Roboter und ihre Fähigkeit, neue Formen des Widerstands in kleinem Maßstab zu verbreiten, machen alle Bemühungen lohnenswert und nicht „vergeblich“. Daher symbolisiert Sisyphus nicht nur die Konfrontation zwischen Macht und Widerstand, sondern auch die Hoffnung, die mit der Möglichkeit einer Veränderung einhergeht.
Jurystatement
Die Bildsprache einer sozialen Struktur – sei es eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft oder eine Institution – lässt uns glauben, dass sie nicht zerstört werden kann, sobald sie einmal aufgebaut ist. Aber eine Religion ohne Menschen, die sie auch ausüben, eine Demokratie ohne Menschen, die zu Wahlen gehen, oder eine Gemeinschaft ohne Beteiligung bedeuten, dass Strukturen zugrunde gehen. Daher können wir keine soziale oder gesellschaftliche Errungenschaft als selbstverständlich ansehen. Das gesellschaftliche Leben ist ein immer wiederkehrender Prozess des Erschaffens und Zerstörens. Diese Installation spricht genau diesen Grundgedanken an. Darüber hinaus verdeutlicht sie die unkontrollierbare Rolle mächtiger Kräfte, die versuchen, Institutionen, die wir liebgewonnen haben, zu zerstören. Aber das Stück enthält auch eine hoffnungsvolle Botschaft: Auch wenn der Feind mächtig ist, sollten wir nicht aufgeben. Stattdessen können die Menschen, die das, was ihnen lieb und teuer ist, aufrechterhalten, neu erschaffen und wiederaufbauen, auch selbst bestehen.
Credits
Regie, Robotik: Kachi Chan
Forschung: Pat Wingshan Wong
Kreativer Technologe: Nirav Beni
Projektberatung: Ruairi Glynn, Parker Heyl, Phaedra Shanbaum
Das Projekt wurde entwickelt bei Interactive Architecture Lab, University College London
Besonderen Dank an: Arthur Wilson, Claudia Palcova, Johann Spindler, Maayan Sophia Weisstub
https://www.kachi-chan.com/projects/sisyphus
Honorary Mention
Total Refusal
pseudo-marxist media guerilla (AT)
Computerspiele sind gleichzeitig Aushängeschild der kapitalistischen Unterhaltungsindustrie und vernachlässigtes Massenmedium unserer Zeit. Das Künstlerkollektiv Total Refusal erkundet dieses sich ständig erweiternde Feld mittels künstlerischer Interventionen. Die Rolle der Kunst als politisches Medium, das Medien-Upcycling sowie der Hyperrealismus in Computerspielen bilden dabei wichtige Impulse.
Total Refusal wurde 2018 von Robin Klengel, Leonhard Müllner und Michael Stumpf gegründet und 2020 durch Susanna Flock, Adrian Jonas Haim und Jona Kleinlein ergänzt. Gestartet als „Digitale Abrüstungsbewegung“, definiert sich die Gruppe heute als „pseudo-marxistische Medienguerilla“. Das offene Kollektiv kritisiert bestehende Praktiken im Genre der Videospiele und eröffnet mit Werkzeugen der Aneignung und Wiederverwendung von Spielressourcen eine neue Perspektive: „Angesichts der Tatsache, dass dieses Medium sein kulturelles Potenzial derzeit nicht ausschöpft, wollen wir uns digitale Spielräume aneignen und sie einer neuen Nutzung zuführen. Indem wir innerhalb von Spielen agieren, aber das beabsichtigte Gameplay beiseitelassen, widmen wir diese Ressourcen neuen Aktivitäten und Erzählungen und versuchen, ‚öffentliche‘ Räume mit kritischem Potenzial zu schaffen.“
Jurystatement
Total Refusal – pseudo-marxistische Medienguerilla beleuchtet das Unsichtbare und stellt das Akzeptierte der Alltagsgesellschaft, wie sie in Blockbuster-Spielen dargestellt wird, in Frage. Total Refusal ignoriert das eigentliche Gameplay und die allgemeine Erzählung, der die Spieler*innen folgen, um die vorgegebenen Ziele erreichen zu können. Es analysiert die offenen Welten, in denen die Spiele stattfinden, und nimmt die Zuschauer*innen mit auf eine Tour im Dokumentarstil, die durch die Seitenstraßen dystopischer Städte führt und bei der man einen Blick auf die Architektur wirft oder die Aufgaben der NPCs („non-playable characters“) analysiert. Diese „nicht spielbaren Charaktere“ sind ein wichtiger Bestandteil des Gameplays, da sie den virtuellen Welten Leben einhauchen und das Spielerlebnis intensivieren. Da NPCs alltägliche Aufgaben erfüllen, kann das virtuelle Eintauchen in ihren Tagesablauf, ihre Jobs und vorprogrammierten Aufgaben auch als ein Spiegelbild davon gesehen werden, wie soziale Strukturen, Vorurteile oder der Wert menschlicher Arbeit heutzutage wahrgenommen, wie Gesellschaften gesehen und in Spielen dargestellt werden. Da einerseits die Spielkultur im Alltag und andererseits die Kultur in den Spielen zu finden ist, ermöglicht die Interaktion nicht nur eine Reflexion über die in den Spielen vermittelten Werte, sondern lässt sie uns auch als Handhabe verstehen, um eine andere Perspektive auf bestehende gesellschaftliche Normen und deren Bedeutung zu gewinnen. Die Jury schätzt auch die Tatsache, dass Total Refusal sich auf das große Genre der Spiele konzentriert, das in breiteren Diskussionen oft nicht hinterfragt wird, um Visionen sowie soziale Strukturen und die Rolle einer Gesellschaft, die in Spielen und Gameplay dargestellt wird, zu untersuchen und zu hinterfragen.
Credits
Total Refusal & ZKM Karlsruhe
https://totalrefusal.com
Honorary Mention
Red Redemption
Total Refusal: Adrian Haim (AT), Leonhard Müllner (AT), Robin Klengel (AT) in Zusammenarbeit mit Susanna Flock (AT) und Jona Kleinlein (DE)
Ein Crashkurs in Klassenanalyse anhand von St. Denis: Die Stadt Saint Denis liegt im Süden der USA und ist eine Imitation von New Orleans zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie ist die Hauptstadt im Videospiel Red Dead Redemption 2. Frauen und Männer schuften in Fabriken und sitzen nachts im Schlamm vor ihren Hütten, während die bürgerliche Freizeitklasse in gepflegten Gärten auf der anderen Seite der Karte Zeitung oder Gedichte liest. Dazwischen flaniert die Mittelschicht über den Boulevard und besucht das Theater. Hunderte von NPCs (Non-Playable Characters, nicht spielbare Charaktere), die Statisten dieses Settings, inszenieren akribisch dieselben Klassenverhältnisse, die das Stadtbild der digitalen und der physischen kapitalistischen Realität gleichermaßen prägen. Im Rahmen eines pseudo-marxistischen Stadtrundgangs analysiert Total Refusal Profit und Mehrwert, Kapital und Akkumulation im Massenmedium Videospiel.
Credits
Ein Projekt von: Adrian Jonas Haim, Leonhard Müllner, Robin Klengel in Kooperation mit Susanna Flock & Jona Kleinlein / Modding: RCPisAwesome
Honorary Mention
Hardly Working
Total Refusal: Robin Klengel (AT), Leonhard Müllner (AT), Susanna Flock (AT), Michael Stumpf (AT)
NPCs sind nicht spielbare Charaktere, die hyperreale Welten bevölkern, um den Anschein von Normalität zu erwecken. Normalerweise spielen diese digitalen Statisten keine große Rolle in der Geschichte eines Spiels. Hier sind eine Wäscherin, ein Stallknecht, ein Straßenkehrer und ein Handwerker die vier Hauptfiguren des Films. Mit ethnografischer Präzision beobachtet der Film ihre tägliche Arbeit: ein Rhythmus, der aus Schleifen besteht und sie täglich und unermüdlich arbeiten lässt.
Sie sind digitale Sisyphus-Maschinen, die keine Chance haben, aus ihren Tätigkeitsschleifen ausbrechen zu können. In den Momenten, in denen der Algorithmus ihrer Existenz Ungereimtheiten aufweist, brechen die NPCs aus der Logik der totalen Normalität aus, zeigen ihre eigene Fehlerhaftigkeit und wirken berührend menschlich. Hardly Working stellt Charaktere in den Vordergrund, die in Videospielen normalerweise in den Hintergrund treten: NPCs.
Credits
Konzept: Robin Klengel, Leonhard Müllner, Susanna Flock, Michael Stumpf
Erzählung: Jacob Banigan
Sounddesign: Bernhard Zorzi
Bühnenbild: Rockstar Games
Honorary Mention
Featherfall
Total Refusal: Robin Klengel (AT), Leonhard Müllner (AT)
Die Videoinstallation Featherfall basiert auf Recherchen in Online-Foren, in denen sich Videospieler*innen über ihre Traumerlebnisse austauschen. Dabei wird deutlich, wie nahe sich Traum- und Spielwelt in der Psyche der User*innen kommen können und welche Rückkopplungen zwischen den beiden alternativen Realitäten entstehen können. Featherfall knüpft an den archetypischen Albtraum des „Fallens“ an, der häufig in der Pubertät auftritt. „Fallen, ohne jemals zu landen“ existiert in Videospielen in Form eines wiederkehrenden Programmierfehlers – eines Glitch –, durch den der Avatar unter die Oberfläche in den leeren, nicht programmierten Raum fällt – der Glitch als digitaler Albtraum.
Credits
Konzept: Robin Klengel und Leonhard Müllner
Text: Robin Klengel
Redaktionelle Bearbeitung: Leonhard Müllner
Konstruktion: Johannes Schweighofer
Erzählung: Kate Howlett-Jones, Michael Howlett