School of the Future Festival: GiriGiri

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Ein Mensch, der den Bus in letzter Sekunde gerade noch erwischt. Eine Bergsteigerin, die auf der Spitze des Matterhorns sitzt und ihre Füße in den Abgrund baumeln lässt. Ein Tourist, der sich bis an die Absperrung ganz oben am Eiffelturm traut und vorsichtig hinunterblickt. Das alles hat mit GiriGiri zu tun – was aber soll es bedeuten?

Genau diese Erklärung von GiriGiri, warum es das Thema unseres neuen School of the Future Festival in Tokyo Midtown (von 21. – 24. Februar 2019) ist und was uns dort erwartet, haben Kyoko Kunoh und Hideaki Ogawa, zwei KünstlerInnen und Researcher am Ars Electronica Futurelab und zugleich die OrganisatorInnen des Festivals in Tokyo, im Interview verraten.

Erzählt mir ein bisschen vom neuen School of the Future Festival in Tokio!

Kyoko Kunoh: Kannst du dich an das School of the Future Programm erinnern, das wir regelmäßig in Tokyo Midtown veranstalten? Normalerweise laden wir zwei oder drei Künstler, Künstlerinnen dazu ein, in Tokyo Midtown auszustellen, aber dieses Mal bereiten wir uns auf eine größere Ausstellung vor, mit Vorträgen, Workshops, und sogar Performances. Es ist ein ausgewachsenes Festival! Wir haben über 15 Künstler und Künstlerinnen eingeladen und sieben Talk Sessions für das School of the Future Festival vorbereitet.

Das Thema ist GiriGiri – was bedeutet das?

Kyoko Kunoh: GiriGiri ist ein japanisches Wort, es bedeutet, nahe einem Abgrund oder einem Rand zu sein oder zu stehen. Auf diese Art ist es eine Bedingung der Situation. Es kann aber auch auf Situationen angewandt werden, in denen man einen Zug oder Bus gerade noch in der letzten Sekunde erwischt – das ist auch GiriGiri. Es kann also ein Ort sein, wir können es aber auch für Zeit benutzen. Egal, wie wir es benutzen, wir reden immer von einer Situation „am Rande“.

Wenn ich also am Gipfel eines steilen Berges stehe, bin ich GiriGiri?

Kyoko Kunoh: Wenn du auf einem Gipfel stehst, stehst du auf dem GiriGiri. Du kannst dort einfach stehen, du kannst aber auch balancieren, es gibt also diese Überlappung zwischen der Grenze der Spitze und dem Rand.

Hideaki Ogawa: Wir hatten die Idee, also wir über das Thema des letzten Ars Electronica Festivals nachgedacht haben, „Error – The Art of Imperfection“. GiriGiri wurde von diesem Error inspiriert, von dieser Kunst der Unvollkommenheit, aber es hat nicht dieselbe Bedeutung. GiriGiri fordert den Status von etwas heraus, während es gleichzeitig bedeutet, die Balance zu halten. Basierend auf dieser Diskussion über den Error am Ars Electronica Festival wollten wir das nach Japan bringen, aber auf etwas andere Art und Weise. Wir sind mit der Herausforderung konfrontiert, cool und extrem zu sein, aber nicht hinunterzufallen, falls du verstehst, was ich meine? Es geht um die Balance. Als wir über Fehler am Ars Electronica Festival sprachen, kam die Idee von Toleranz oft auf – wie können wir diese Herausforderung, die Fehler mit sich bringen, zu schätzen lernen, oder akzeptieren? Wie können wir sie dazu benutzen, auf wirklich gut ausgearbeitete Ideen oder Techniken abzuzielen? Wir möchten damit ansprechen, dass der Error wichtig ist, aber GiriGiri auch. Diese Idee ist sehr verbunden mit der täglichen Praxis von Künstlern, Künstlerinnen, und Innovators, die ständig versuchen, Dinge besser zu machen. Wir leben in einem Zeitalter der Perfektion, viele Gesellschaften scheinen GiriGiri oder Fehler nicht einmal mehr zu akzeptieren. In dieser Hinsicht scheint GiriGiri sogar gefährlich! Wir brauchen aber diese Flexibilität, das ist die Art, wie wir GiriGiri schätzen können.

ObOrO / Ryo Kishi. Credit: vog.photo

Die Ideen davon, am Rande zu stehen und etwas Ausgefallenes zu tun, verbinden sich hier. Wie fließt dieses Konzept also dann in die Ausstellungen in Tokyo Midtown?

Kyoko Kunoh: Wir schaffen drei Ausstellungsareale. Das erste ist der GiriGiri Room, wo wir uns auf die Grenze zwischen dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen fokussieren. Die Projekte, die hier ausgestellt sind, sind Phänomene unseres täglichen Lebens, die sich manchmal sehr schnell in außergewöhnliche Momente verwandeln. Wir haben Jacob Tonski eingeladen, um seine Arbeit „Balance from Within“ zu zeigen, mit dem er bereits eine Auszeichnung beim Prix Ars Electronica gewonnen hat. Wir zeigen außerdem „The Long Now“ von Verena Friedrich. Diese Künstlerin schafft Blasen, künstliche Blasen, die mitten in der Luft in einem Schwebezustand gehalten werden. Sie schweben, aber bewegen sich nicht – bis sie ganz plötzlich platzen. Es ist wirklich ein sehr GiriGiri Moment. Ryo Kishi zeigt seine Arbeit „ObOrO“, an die sich bestimmt viele vom letzten Ars Electronica Festival erinnern können.

πTon / Cod.Act. Credit: Tom Mesic

Der zweite Teil ist unser GiriGiri Square, wo es um die Grenze zwischen lebendigen und künstlichen Leben geht. Hier haben wir Cod.Act eingeladen, um ihre Arbeit “πTon” zu zeigen. Wir zeigen auch Takayuki Todos „Seer“. Es zeigt die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Humanoiden auf. Ai Hasegawa, eine japanische Künstlerin, stellt „I Wanna Deliver A Dolphin…“ aus, eine sehr spekulative Arbeit. Sie fragt sich: Was wäre, wenn Menschen andere Spezies gebären könnten? Tiere? Die Delfinpopulation sinkt ständig, sie stellt sich also eine Welt vor, in der Menschen Delphine auf die Welt bringen können.

Zu guter Letzt haben wir noch das GiriGiri Laboratory. Hier konzentrieren wir uns auf bestimmte Herausforderungen. Wir haben Künstler und Künstlerinnen eingeladen, aber auch Firmen, um uns Prototypen zu zeigen. Ein Beispiel ist Giulia Tomasello, die letztes Jahr den STARTS Prize mit ihrem Projekt „Future Flora“ gewann. Eine weitere Arbeit ist „Heteroweave“ von Yasuaki Kakehi Laboratory, HOSOO und YCAM. Es zeigt interessante Visionen für die Textilherstellung in Kollaboration mit traditionellen, japanischen Textilfirmen. Es werden drei Arten von Textilien ausgestellt, eines wechselt die Farbe mit der Temperatur, ein weiteres ist eine Art Interface, und das dritte zeigt verschiedene Formen, die Textilien annehmen können. Auf der anderen Seite haben wir auch mehrere Firmen eingeladen, uns ihre GiriGiri Projekte zu zeigen, wie Ana Avatar, eine japanische Airline, zum Beispiel. Sie versuchen gerade, in Richtung Raumfahrt zu gehen, also werden sie uns ihre Herausforderungen und Prototypen präsentieren.

Hideaki Ogawa: Zusätzlich wird es mehrere ortsspezifische Projekte geben, die wir in Tokyo Midtown präsentieren werden. Mit GiriGiri Product zeigen Geschäfte von Tokyo Midtown ihre eigenen GiriGiri Produkte. Bei unserer Initiative geht es nicht nur darum, Inhalte nach Tokyo Midtown zu bringen, sondern auch darum, etwas gemeinsam mit den Geschäften zu schaffen, die bereits dort sind. Wir haben also einen kleinen Open Call für die Geschäfte dort ins Leben gerufen – einige von denen, die eingereicht haben, werden also nun etwas präsentieren. Es gibt viele innovative und auch GiriGiri Herangehensweisen, wie man bessere Produkte machen kann; das ist es, was wir zeigen wollen.

Wir möchten außerdem die Räumlichkeiten in Tokyo Midtown gut ausnützen, also wird es eine Performance von Ei Wada geben. Mit seinen umgewandelten elektronischen Geräten schafft er es, einen echten GiriGiri Moment im öffentlichen Raum zu erstellen. Die zweite Performance kommt von Akira Wakita, sie heißt „Entrance Exam 2019 für Speculative Fake Campus“. Sie adressiert neue Arten von Schultests, was sehr gut passt, weil das Thema der Schule der Zukunft momentan sehr prominent ist, besonders in Japan. Die Performance gibt vor, dass unsere School of the Future einen Aufnahmetest während der Ausstellungen hat.

Ei Wada. Credit: vog.photo

Es wird auch Workshops geben. Im ersten arbeiten wir mit WIRED Japan zusammen, der zweite wurde von unserem Ars Electronica Futurelab erstellt. Wir möchten uns in die GiriGiri Idee vertiefen, indem wir die einzigartigen Gegebenheiten in Tokyo Midtown benutzen.

Kyoko Kunoh: Was unseren Workshop betrifft, haben wir einen GiriGiri Kit designt. Es ist eine Art Werkzeugkoffer, der eine Diskussion mit dem Publikum darüber anregt, was GiriGiri eigentlich ist. Er besteht aus mehreren Holzblöcken, die mit Tafel-Farbe angemalt sind, sodass Menschen kommen und Fragen darauf schreiben können. Was ist die Bedeutung von GiriGiri für dich? Man kann die Holzblöcke dann auf den Tisch stellen und Türme bauen, je nachdem, ob man zustimmt oder nicht. Die Art, wie man die Blöcke stapelt, ist schon von sich aus sehr GiriGiri!

Könnt ihr mir etwas von den Talk Sessions erzählen?

Kyoko Kunoh: Wir haben sieben dieser Talk Sessions vorbereitet, drei davon setzen sich aus Vortragenden aus den verschiedenen Teilen unserer Ausstellung zusammen. Es gibt eine Talk Sessions, wo die Künstler und Künstlerinnen vom GiriGiri Laboratory sprechen, eine, wo die Vortragenden aus dem GiriGiri Square kommen, und eine, in dem Ausstellende vom GiriGiri Room zu Wort kommen. Zusätzlich haben wir dann noch vier weitere dieser Talk Sessions. In einer davon reden wir über GiriGiri in der Szene von Ars Electronica. Der Ars Electronica Festivalleiter Martin Honzik wird sprechen, genauso wie japanische Teilnehmende und Künstler, Künstlerinnen vom Ars Electronica Festival oder der Prix Ars Electronica Jury. Eine weitere Sitzung wird davon handeln, wie Medienkunst die Stadt Tokio verändert. Februar ist so etwas wie die Medienkunstsaison für diese Stadt, es gibt ein paar andere Medienkunstfestivals, die zur gleichen Zeit stattfinden. Wir haben zwei der anderen Festivals in Tokio dazu eingeladen, mit uns zu sprechen, sowie auch Repräsentanten und Repräsentantinnen von Tokios Stadtrat und Regierung. Der künstlerische Leiter der Ars Electronica, Gerfried Stocker, wir auch an diesem Panel beteiligt sein.

Hideaki Ogawa: Bleiben also noch zwei Talk Sessions übrig. Eine handelt von Künstlern und Künstlerinnen, die in Firmen arbeiten. Das ist eher ungewöhnlich für uns, weil wir uns normalerweise auf Künstler und Künstlerinnen konzentrieren, die nicht in einem Firmenkontext angestellt sind. Bei diesem Panel aber werden Menschen wie Shiho Fukuhara sprechen, die eine sehr bekannte Biokünstlerin ist und auch bei Google arbeitet. Akinori Goto, der schon am Ars Electronica Festival und auch im Ars Electronica Center ausgestellt hat, wird auch dabei sein. Alle, die an dieser Talk Session teilnehmen, haben sozusagen zwei Gesichter, eines als Künstler und Künstlerinnen, und eines als Angestellte. Wir werden über die Form und die Rolle von Künstlern und Künstlerinnen in der Gesellschaft sprechen – sie handeln nicht nur als individuelle Künstler und Künstlerinnen, sondern stimulieren auch Innovationen in Firmen. Wir interessieren uns dafür, wie sie arbeiten, und auch dafür, was sie für die Zukunft von Künstlern und Künstlerinnen in Firmen oder Regierungen halten. Sie sind nicht mehr nur in ihren Ateliers oder typischen künstlerischen Umgebungen unterwegs. Stattdessen agieren sie, um interessante soziale Diskurse loszutreten.

Die letzte Session ist etwas gesondert, es gibt dafür auch ein eigenes Ticketsystem. Zwei sehr interessante Vortragende nehmen teil, einer davon ist Takkyu Ishino, ein sehr bekannte Techno Sound Künstler. Der andere ist Naohiro Ukawa, Host von Dommune. Sie sind wie kulturelle Botschafter, die das GiriGiri Konzept an die Gesellschaft vermitteln können, das wird bestimmt sehr spannend.

Welche Diskussionen und Reaktionen erhofft ihr euch mit dem School of the Future Festival?

Kyoko Kunoh: Ich hoffe, dass das Publikum über eigene GiriGiri Momente nachdenkt, über GiriGiri Situationen, und auch über GiriGiri Herausforderungen.

Hideaki Ogawa: Ich habe eigentlich zwei große Erwartungen. Wir leben in einer Zeit in der die Gesellschaft danach trachtet, perfekt zu sein. Fast zu perfekt! Wir wollen glauben, dass alles unter Kontrolle ist, nicht GiriGiri. Die Realität sieht aber anders aus. Wie können wir unser eigenes Maß dafür entwickeln? Welches Maß sollen wir verwenden, um einzuschätzen, ob etwas richtig oder falsch ist? Wir müssen verstehen, was GiriGiri ist und wie es sich verändert, basierend auf der individuellen Wahrnehmung. Für mich ist es sehr interessant, in dieser Ausstellung herauszufinden, welche Kriterien wir verwenden könnten, und, dass wir eine Umgebung schaffen, in der wir über Kreativität an dieser Grenze, an diesem Rand sprechen können.

Zweitens, wie auch Kyoko vorhin schon erwähnt hat, gibt es eine Menge an Medienkunstfestivals in Tokio. Ich hoffe, dass unsere Initiative School of the Future dazu dienen kann, neue Synergien für die Medienkunstszene in Tokio zu schaffen. Ich empfehle es allen Besuchern oder Besucherinnen, ob sie aus der Ferne anreisen oder aus Japan kommen, auch die anderen Festivals zu besuchen.

Kyoko Kunoh ist Künstlerin und Wissenschaftlerin am Ars Electronica Futurelab. Sie beschäftigt sich extensiv mit Kunstwerken im Bereich der interaktiven Kunst und war in einer breiten Auswahl von Feldern aktiv, wie zum Beispiel als Leiterin im öffentlichen und kommerziellen Raum, Designerin von Ausstellungsprodukten, und in gemeinsamer Arbeit und Projekten mit Firmen und Universitäten. Ihre Projekte wurden an verschiedenen nationalen und internationalen Orten ausgestellt, unter anderem bei Ars Electronica (Österreich), SIGGRAPH (USA), Centre Pompidou (Frankreich) und dem Japan Media Arts Festival (Japan).

Hideaki Ogawa, kreativer Katalysator, Künstler, Kurator und Wissenschaftler im Ars Electronica Futurelab. Er realisierte viele Projekte für Innovation mit Industriepartnern wie Honda R&D, Toshiba, Toyota, Hakuhodo und mehr. Sein Fokus liegt besonders auf dem Bereich Art Thinking, um Innovation zu katalysieren. Sein Hauptprojekt, Future Catalysts, ist eine kreative und innovative Plattform, die gemeinsam von Hakuhodo und Ars Electronica entwickelt wurde. Durch eine Synergie mit distinkten, weltweiten InnovatorInnen in den Bereichen der Kunst, Wissenschaft und Technologie produziert das Projekt neue Konzepte, Ideen und Strategie, die als Antworten zu verschiedenen „kreativen Fragen“ dienen. Zusätzlich zu seiner Forschung an künstlerischer Innovation setzte Hideaki Ogawa internationale Projekte für Festivals, Exportprogramme wie Ars Electronica im Knowledge Capital und das Ars Electronica Center um. Seine Spezialthemen sind „Creative Catalyst“ und „Robotinity – What Is The Nature of Being a Robot“. Hideaki Ogawa ist außerdem ein Repräsentant und Künstlerischer Leiter der Medienkunstgruppe “h.o.”. Er sucht nach witzigen neuen Ideen, abhängig von aktuellen sozialen Kontexten, und realisiert künstlerischen Ausdruck mit der Geschwindigkeit von technologischem Fortschritt.

Das School of the Future Festival findet von 21. – 24. Februar 2019 in Tokyo Midtown statt. Hier erfahren Sie mehr.

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