Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wir blicken zurück auf 365 Tage Ars Electronica. Russlands Krieg gegen die Ukraine, der immer dramatischer werdende Klimawandel, die Frage der Ausgrenzung und der Minderheiten, aber auch die Frage der Kultur im digitalen Raum, die digitale Transformation und die Ethik der künstlichen Intelligenz – unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Als Europas größte und wichtigste Plattform für Kunst, Technologie und Gesellschaft ist es unser Aufgabe, unserer eigene Rolle zu reflektieren und auf den Wandel in der Gesellschaft zu reagieren. Kann die Kunst dabei eine Rolle spielen? Sicherlich nicht im Sinne einer Gesamtverantwortung. Aber Kunst kann versuchen, einen Raum, eine Alternative, einen neutralen Ort anzubieten, an dem der Wandel in seiner widersprüchlichen Komplexität erfahren werden kann. Leider gibt es Künstler*innen, denen es aufgrund erschwerter Bedingungen schwer oder gar nicht möglich ist, ihre künstlerischen Freiheiten zu entfalten. Mit internationalen Opencalls, spannenden Kooperationen und dem Ars Electronica Festival als Bühne versuchen wir diese Menschen zu erreichen und in diesen schweren Zeiten zu unterstützen.
Brücken bauen
Der Krieg in der Ukraine hat verheerende Folgen, vernichtet Existenzen und versucht, die kulturelle Identität der Ukraine und ihrer Bürger*innen zu zerstören. Diese dramatischen und beängstigenden Entwicklungen im osteuropäischen Kulturraum sind ein wichtiger Anlass, sich mit der Situation von Kulturschaffenden und Künstler*innen auseinanderzusetzen. Mit der Ausschreibung „State of the ART(ist)“ schaffen das österreichische Außenministerium und Ars Electronica eine virtuelle Kunsthalle, um in einem sicheren Rahmen die Entfaltung künstlerischer Freiheiten zu ermöglichen. Damit sollen Künstler*innen in der Ukraine und weltweit unterstützt werden, denen ein Engagement für Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung vor Ort nicht oder nur unter großer Bedrohung möglich ist. Alle eingereichten State of the ART(ist)-Projekte werden als Teil des Ars Electronica Festival 2022 „Welcome to Planet B: A different life is possible. But how?“ online präsentiert und so für ein weltweites Publikum sichtbar gemacht. Insgesamt gingen 357 Projekte aus 40 Ländern bei Ars Electronica ein.
DOORS steht für „Digital Incubator for Museums“ und ist eine gemeinsame Initiative von Ars Electronica, MUSEUM BOOSTER und Ecsite, die kleine und mittlere Museen bei Themen der digitalen Transformation unterstützt. Aus über 120 Anmeldungen wurden 40 Museen aus allen Regionen Europas ausgewählt, die in der ersten Phase des Programms Unterstützung, Rat und Information von Expert*innen erhalten – sei es bei der Entwicklung von Aktivitäten, die die Interessen und Erwartungen der Besucher*innen widerspiegeln, bei der Anschaffung von Geräten zur Erstellung digitaler Inhalte oder bei der Steigerung der Attraktivität der eigenen Einrichtung für ein größeres Publikum durch digitale Angebote. Alle Vorschläge zeigen kreative Wege auf, wie Kultureinrichtungen ihre eigene Rolle neu definieren können.
Die gemeinnützige Cisneros Fontanals Art Foundation (CIFO) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das kulturelle Verständnis und den Bildungsdialog zwischen lateinamerikanischen Künstler*innen und einem globalen Publikum zu unterstützen und zu fördern. Die CIFO-Ars Electronica Awards würdigen und fördern die Praktiken aufstrebender lateinamerikanischer Künstler*innen, die mit Technologie im Bereich der neuen Medien und digitalen Kunst arbeiten. Zusätzlich zu einem Geldpreis und einer Ausstellung im LENTOS Kunstmuseum während des Festivals werden die ausgezeichneten Werke in die renommierte ständige Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst der Cisneros Fontanals Art Foundation aufgenommen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf lateinamerikanischer Kunst liegt.
Der Gewinner der diesjährigen ArtScience Residency, die von der Art Collection Deutsche Telekom ermöglicht wurde, Irakli Sabekia, hat sich in seinem Projekt „Archive of Spatial Knowledge“ mit Fragen der Migration und Vertreibung beschäftigt. Das „Archive of Spatial Knowledge“ ist eine digitale Plattform, die sich der Sammlung und Bewahrung räumlicher und sozialer Erinnerungen von Menschen widmet, die gewaltsam vertrieben wurden und denen räumliche Rechte verweigert wurden. Das wichtigste Instrument des Archivs ist eine mobile App namens Space Reader, die es ehemaligen Bewohner*innen ermöglicht, schriftliche Erinnerungen an ihre ehemaligen Gemeinden und Lebensumgebungen mit den ursprünglichen Orten auf einer virtuellen Ebene zu verbinden. Mit diesem Tool schafft das Archiv einen geschützten Wissenspool, der die physische Landschaft überlagert, ausgelöschte Erzählungen bewahrt und es den Besucher*innen des Archivs ermöglicht, Erinnerungen wieder mit dem geografischen Raum zu verknüpfen.
Eine Bühne für Kunst
Doch nicht nur mit internationalen Ausschreibungen haben wir versucht, Künstler*innen zu erreichen und ihnen eine Möglichkeit zu bieten, ihre Kunst zu präsentieren. Auch hier vor Ort in Linz haben wir kunstschaffenden Menschen eine Bühne geboten, um ihre Werke einem internationalen Publikum zu zeigen. Zwischen der Kunstuniversität Linz und Ars Electronica besteht seit vielen Jahren eine enge Zusammenarbeit. Im Rahmen der Ausstellungsreihe „TIME OUT“ stellt das Ars Electronica Center jungen Medienkünstler*innen der Studienrichtung „Zeitbasierte und Interaktive Medien“ Raum für ihre Arbeit zur Verfügung. Ob Film, Sound, Performance, Programmierung oder Interfacetechnik – der Studiengang „Zeitbasierte und interaktive Medienkunst“ lässt seinen Studierenden viel Freiraum, sich kreativ auszudrücken. Die entstandenen Arbeiten sind so vielfältig wie der Studiengang selbst – eine Auswahl von neun Arbeiten wird im Ars Electronica Center präsentiert.
Die Themenausstellung des Ars Electronica Festival 2022 „Welcome to Planet B – A different life is possible! But How?“, STUDIO(dys)TOPIA, geht der Frage nach, wie die Menschheit nachhaltige Praktiken in die Tat umsetzen kann und steht als Metapher für unsere Gegenwart, in der sich die Konzepte von Dystopien und Utopien in einer veränderten Realität wiederfinden. Die ausgewählten Arbeiten konzentrieren sich auf die Realität des Wandels und die ihm innewohnenden Widersprüche. Dabei wird das Zusammentreffen der zwei Disziplinen – Kunst und Wissenschaft – hervorgehoben, deren Charakter es ist, widersprüchlich zu sein, um zu möglichen Antworten und Lösungen zu gelangen. STUDIO(dys)TOPIA bietet einen Raum, in dem Widerspruch erlebt, erprobt und als Tugend und Chance erkannt werden kann, und stellt die Frage, welche Rolle die Kunst bei diesem entscheidenden Unterfangen einnehmen soll.
Die CyberArts-Ausstellung präsentiert die Arbeiten der Gewinner*innen des Prix Ars Electronica, die von Expert*innen aus der ganzen Welt ausgewählt wurden. Sie kommen aus verschiedenen Bereichen der digitalen Kunst und Kultur und ihre Arbeiten werden in intensiven Jurysitzungen in verschiedenen Kategorien bewertet. 2022 wurden die besten Arbeiten aus mehr als 2.338 Einreichungen aus über 88 Ländern ausgewählt. Der Prix Ars Electronica ist damit eine der wichtigsten Plattformen für Medienkünstler*innen, um mit einer breiteren Öffentlichkeit in Kontakt zu treten. Er ist aber auch ein Spiegel der Gesellschaft, der uns jedes Jahr einen anderen Blick auf das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Technologie ermöglicht.
Der Prix Ars Electronica in der Kategorie u19—create your world wollte immer schon wissen, mit welchen Themen sich die Jugendlichen beschäftigen, welche Visionen sie haben und wie sie das Ganze in der Form von Kunstwerken zum Ausdruck bringen. Dass diese Themen nicht immer positiver Natur sind, zeigt das Gewinner*innenprojekt der Kategorie „u19 – create your world“ von Linzer Künstlerin Mary Maryhofer. Eine schwarze Decke unter der sich ein scheinbar regloser Körper befindet, auf ihr ein Gedicht in Großbuchstaben verfasst. Das Gedicht entstand an einem emotionalen Tiefpunkt und handelt von Lethargie, Erschöpfung und Isolation. Mit dem Projekt „Die Schwarze Decke“ beschäftigt sich Mary Mayrhofer stark mit dem Thema „psychosoziale Gesundheit“ und zeigt die Schattenseiten einer Generation, die in den letzten Jahren komplett weggebrochen ist. Im Interview erzählt uns die Künstlerin mehr über die Geschichte hinter dem Projekt.
Esch-sur-Alzette, eine Stadt im Süden Luxemburgs, befindet sich im Umbruch: Eine ehemalige Stahlregion wird in ein Zentrum für zukunftsorientiertes Wissen und innovative Kreativität umgewandelt. Esch2022 – Kulturhauptstadt Europas hat Ars Electronica Export eingeladen, mit einer Ausstellung in der Möllerei Teil dieses Wandels zu werden. Transformation und Wandel – das sind die Attribute, die Ars Electronica in der Ausstellung IN TRANSFER – A New Condition hervorhebt. Sie nähert sich diesen Begriffen und will erkunden, was das Wesen des Wandels ist. Was sind die Themen, die uns als Gesellschaft zur Veränderung zwingen, und welche sind dringend? Was sind die Mechanismen, die den Wandel vorantreiben, warum wird er verhindert, mit welchen Mitteln kann er erreicht werden? Und welche Rolle kann die Kunst dabei spielen? Die Ausstellung handelt von Künstler*innen, die an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft agieren und immer dort sind, wo sich der Wandel vollzieht.
Menschen und ihre Geschichten
Mit der in New York lebenden Laurie Anderson ehrt die Ars Electronica 2022 eine Künstlerin als „Visionäre Pionierin der Medienkunst“, deren umfassendes Werk stets um das Verhältnis von Mensch und Technik kreist und sich durch ein hohes Maß an gesellschaftspolitischem Engagement auszeichnet. Eine Musikerin, Komponistin, Filmemacherin, Autorin und Medienkünstlerin, die, wie nur ganz wenige, die verschiedenen Genres zu durchqueren und zu verbinden weiß und damit zu einer einflussreichen und stilprägenden Ikone avantgardistischer Medienkunst wurde.
Am vorletzten Tag des Ars Electronica Festival 2022 präsentierte Laurie Anderson in Kooperation mit Komponist Dennis Russell Davies, dem Orchester der Filharmonie Brno und Cellist Rubin Kodheli eines ihrer jüngsten musikalischen Werke, „Songs for Amelia Earhart“, eine Serie von Stücken, die von dem letzten Flug der amerikanischen Pilotin Earhart handeln. Für das Stück hat Laurie Anderson Texte aus Earharts Tagebuch, vom Fernschreiber und von Radiomeldungen genommen. „Die Worte, die in Amelia verwendet werden, stammen aus ihren Piloten-Tagebüchern, den Telegrammen, die sie an ihren Mann schrieb, und meiner Vorstellung davon, was einer Frau, die um die Welt fliegt, einfallen kann“, so die Musikerin.
Großer Beifall im Publikum, ein Mann betritt die Bühne und schreitet zum Mikrofonständer in der Mitte der Plattform. Das Intro ertönt, die Stimme ist zu hören und plötzlich entsteht Verwirrung. Die Stimme, die zu hören ist, ist nicht die des Sängers. Es ist die Stimme der Künstlerin Holly Herndon, die hier von einer KI live übersetzt zu hören ist. Die Stimme eines anderen Menschen zu übernehmen, das ist dank Holly Herndon keine Zukunftsmusik mehr. „Holly+“, für das die Künstlerin mit dem STARTS Prize 2022 ausgezeichnet wurde, ist eine wahre Meisterleistung dessen, was maschinelles Lernen in der Musik heute schon möglich machen kann. Ob als voraufgenommene Audiodatei über die Website holly.plus oder, wie hier, als Live-Performance: Jeder und jede, die will, kann sich Hollys Stimme ausleihen, um damit selbst Musik zu machen. Dank der dezentralen, autonomen Organisation „Holly+ DAO“, die um das Projekt herum aufgebaut wurde, können Musiker*innen nicht nur ihre Stimme nutzen und damit Geld verdienen, sondern auch die Weiterentwicklung dieser Instrumente finanzieren und die Rolle eines Kontrollorgans übernehmen, wenn es um die angemessene Nutzung ihres digitalen Zwillings geht.
Der Amerikaner Philip Glass gehört zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart und hat die „Minimal Music“-Bewegung mitgeprägt. Werke wie Glassworks, Einstein On The Beach sowie die Filmmusik zu The Hours oder Kundun haben ihn weit über die Grenzen der Klassik-Szene bekannt gemacht. Am 31. Januar 2022 feiert der in Baltimore geborene Pianist und Komponist seinen 85. Geburtstag. Auch wir feiern im Deep Space 8K des Ars Electronica Center in Linz mit einem Abend voller Klaviermusik, die Philip Glass für Dennis Russell Davies und Maki Namekawa komponiert hat.
Mit seinen vielfältigen Rollen als Wissenschaftler, Autor von Science-Fiction-Romanen und Spezialist für Computergrafik gab er als Mitbegründer der ersten Ars Electronica 1979 einen folgenreichen Impuls für viele weitere Medienkunstfestivals. Am Samstag, 16. Juli 2022, ist Herbert W. Franke verstorben. Seine Vision und Inspiration wird weiterleben, nicht nur bei Ars Electronica.
Mona Lisa und Co: “Klassische Kunst” im Deep Space 8K
Die Türen des Deep Space 8K öffnen sich, die Besucher drängen sich in den riesigen, erleuchteten Raum. Nach einer kurzen Weile wird es dunkel und die Präsentation beginnt. Hochauflösende Gigapixel-Bilder von weltberühmten Gemälden von Pieter Bruegel dem Älteren, Gustav Klimt, Leonardo Da Vinci, virtuelle Rundgänge durch den Wiener Stephansdom oder die Pyramiden von Gizeh. Geschichten und die Geschichten hinter den Geschichten – darum geht es bei der Vermittlung von kulturellem Erbe im Deep Space 8K. Täglich nehmen die Infotrainer*innen des Ars Electronica Center die Besucher*innen mit auf eine virtuelle Reise durch die europäische Kunst- und Kulturgeschichte. Im Mittelpunkt steht das immersive Erleben des europäischen Kulturerbes und damit die Erweiterung des eigenen Horizonts.
In Kooperation mit den Vatikanischen Museen und der Österreichischen Botschaft beim Päpstlichen Stuhl in Rom sind im Deep Space 8K zum ersten Mal Gigapixel-Bilder von zwei herausragenden Kunstwerken des großen Meisters Pietro Perugino aus der Sixtinischen Kapelle – der Hauptkapelle im Papstpalast – zu sehen. Es handelt sich dabei um Fresken aus dem Zyklus mit Geschichten aus dem Leben Christi im mittleren Teil der rechten Wand der Kapelle, die von einer Gruppe berühmter umbrischer und toskanischer Künstler im Auftrag von Papst Sixtus IV. im Jahr 1482 fertiggestellt wurden. Dank der Verwendung von hochauflösenden Digitalbildern aus den Vatikanischen Museen, die aus der Gigapixel-Fototechnologie stammen, bietet diese immersive Präsentation einen privilegierten, spektakulären Blick auf diese zeitlosen Fresken von Perugino, die mit absoluter Klarheit und Genauigkeit in perfekter Detailgenauigkeit betrachtet und bewundert werden können, was den Besucher*innen eine völlig einzigartige Erfahrung ermöglicht.
Im ersten Teil unseres Jahresrückblicks werfen wir einen genaueren Blick auf die Frage, warum uns Technologie so fasziniert und blicken zurück auf spannende Experimente mit Technologie.
Wer uns auch nächstes Jahr wieder auf unserer spannenden Reise begleiten und Teil der Plattform Ars Electronica sein will, ist herzlich eingeladen uns auf unseren Social Media Kanälen wie Mastodon, Facebook, Instagram, Twitter, LinkedIn, und Youtube zu folgen, unseren Newsletter zu abonnieren, oder uns im Ars Electronica Center zu besuchen.