Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und neue Instrumente der wissenschaftlichen Visualisierung prägen die Art und Weise, wie wir Bilder verstehen und erstellen. In der neu benannten Kategorie „New Animation Art“ werden Arbeiten von Künstler*innen aller Welt gewürdigt. Gesucht wird dabei nach Projekten, die an der Schnittstelle von Animation, Kunst und Technologie forschen und experimentieren.
In diesem Jahr wurde Ayoung Kim für ihr Projekt „Delivery Dancer’s Sphere“ mit einer goldenen Nica in der Kategorie New Animation Art ausgezeichnet. In einer faszinierenden Mischung aus 3D- Animation und Live-Action-Aufnahmen erschafft die Künstlerin ein fiktives Seoul, in der die Lieferfahrerin Ernst Mo für die Plattform „Delivery Dancer“ arbeitet. Unter der Kontrolle des Algorithmus „Dancemaster“ erledigt sie ihre endlosen Lieferungen. In einem Interview mit Ayoung haben wir mehr über den kreativen Prozess, die Umsetzung des Projekts und die fesselnde Protagonistin Ernst Mo erfahren.
Kannst du uns etwas über den kreativen Prozess erzählen, der hinter der Entwicklung des fiktiven Seouls und der endlos generierten Straßen und Routen steht?
Ayoung Kim: Die Geschichte, die ich gerne als „Pandemie-Fiction“ bezeichne, begann mit meiner Erfahrung mit COVID-19 und meiner fast dreijährigen unfreiwilligen Inhaftierung in meiner Heimatstadt Seoul. Während dieser Zeit war ich stark auf Apps und Essenslieferdienste angewiesen. Die Pandemie führte zu Bewegungseinschränkungen und einem exponentiellen Wachstum von Lieferplattformen, die Fahrer*innen durch Werbekampagnen mit hohen Gebühren rekrutierten. Diese Lieferfahrer*innen, die in einer Zeit, in der es kaum Taxis gab, die mobilsten Menschen auf den Straßen waren, lieferten Lebensmittelpakete an verschiedene Bestimmungsorte und versuchten, die Anforderungen an die kürzeste Entfernung und die kürzeste Lieferzeit zu erfüllen. Die Menschen mussten nicht mit den Fahrer*innen interagieren, die ihre „unsichtbare“ Arbeit auf Anweisung des Master-Algorithmus verrichteten, um die nächste Lieferung schneller zu erledigen und die Kund*innen zum optimalen Zeitpunkt zu bedienen.
Ich war neugierig auf die Auslieferungsfahrer*innen und ihre Erfahrungen, da die Menschen nicht mit ihnen interagieren mussten. Die Fahrer*innen waren während der gesamten Pandemie die mobilsten Einheiten, während alles andere auf Eis lag. Und ich fand es zunehmend merkwürdig, dass die meisten Menschen so wenig über die Fahrer*innen wussten, z. B. wie sie sich bewegten und was für Menschen sie waren.
Ich interviewte eine erfahrene Auslieferungsfahrerin und fuhr auf dem Rücksitz ihres Motorrads mit, um den gesamten Auslieferungsprozess zu erleben. Es war eine völlig neue Erfahrung, und mir wurde klar, dass die Wahrnehmung der Realität in gewisser Weise gespalten oder vervielfacht wird, weil die Fahrerinnen während der Fahrt ständig auf den Bildschirm ihres Handys schauen müssen, um weitere Lieferanrufe zu empfangen und Benachrichtigungen in der Liefer-App zu überprüfen, und gleichzeitig auf der Straße fahren müssen. Außerdem benötigen sie ein zusätzliches Mobiltelefon, um die „tatsächliche Navigation“ zu verfolgen, da die App nicht die tatsächliche Straßennavigation anzeigt, sondern die kürzeste Entfernung. Wenn die Fahrer*innen auf der Straße sind, sehen sie also den physischen Raum, den Handybildschirm, um ständig die Liefer-App zu überprüfen, und einen zusätzlichen Handybildschirm für die Navigation. Das ist ein gefährlicher Job, bei dem sie körperlich und geistig extrem aufmerksam sein müssen. Sonst kann es zu einem Unfall kommen.
Diese Hyper-Wachsamkeit und der Drang, körperlich, zeitlich und räumlich optimal zu sein, sind in unserer immer schneller werdenden Gesellschaft unabdingbar. Diese unsichtbare Arbeit brachte mich dazu, über die Idee der „Ghost Dancer“ nachzudenken, der hochrangigen Lieferfahrer*innen, die aufgrund der Verzerrung von Zeit und Raum in der Fiktion hyperschnell sind. Sie sind unsichtbar, weil sie mit Lichtgeschwindigkeit fahren, und das war meine Art von Satire.
Ich habe auch mehr über die physikalischen und philosophischen Konzepte von Zeit und Raum gelesen. Ich hatte Berater*innen aus den Bereichen Astrophysik, topologische Mathematik und Philosophie, die mir aufrichtige und hilfreiche Ratschläge gaben, wie ich über das Konzept der Geschichte nachdenken sollte. Weitere Quellen auf die ich zurückgriff waren Interviews, Lektüre und Recherchen.
Kannst du uns mehr über die Technolgien und Methoden erzählen, die du verwendet hast, um das Projekt „Delivery Dancer’s Sphere“ ins Leben zu rufen?
Ayoung Kim: Es gab einige Herausforderungen und Probleme mit der visuellen Technologie, aber mein Team und ich genießen diese Prozesse. Es gab immer alternative Lösungen, wenn die erste Option nicht funktionierte. Zum Beispiel wollte ich eine Sequenz von photogrammetrischen Aufnahmen machen, um die engen, labyrinthartigen Gassen von Seoul darzustellen. Es war jedoch zu teuer, ein professionelles Unternehmen mit Lidar-Scans zu beauftragen. Deshalb schlug unser Entwickler vor, eine Lidar-Scan-App auf einem iPhone zu verwenden, was sehr gut funktionierte. Später haben wir die gescannten Straßen und Gassen in Maya angeordnet und zusammengesetzt.
Die Motorradfahrsequenz, die als eine Art „Tanzsimulation im Spiel“ beschrieben wurde, wurde in Unity erstellt. Ich wollte eine auf Wolkenkratzern basierende Stadtlandschaft schaffen, die im Kontrast zu den engen Gassen der Photogrammmetrie-Sequenz steht. Wir arbeiten seit einigen Jahren mit einem großartigen Unity-Entwickler zusammen, der uns mit Rat und Tat zur Seite steht. Er war bei vielen meiner jüngsten Projekte der technische Leiter.
Folgende Software oder visuelle Technologien haben wir bei diesem Projekt verwendet: Unity, Maya, 3D-Scannen und Retopologie (in einem professionellen Labor), Mixamo, GoPro MAX 360, Premiere Pro, After Effect und Live-Action-Aufnahmen.
Es macht mir Spaß, sowohl optische Bilder, die in der realen Welt mit echten Schauspieler*innen aufgenommen wurden, als auch post-optische Bilder, die mit CGI-Software und Game-Engines erstellt wurden, zu verwenden. In meiner Arbeit gibt es immer eine Kombination und einen Zusammenprall dieser beiden Bildgestaltungstechniken. Zum Beispiel wollte ich unbedingt GoPro MAX 360 Aufnahmen in meine Arbeit integrieren, genauso wie photogrammetrisches Scannen. Die GoPro 360 Aufnahmen zeigen eine seltsam verzerrte optische Ansicht, die überhaupt nicht optisch aussieht, aber nur mit optischer Technik erreicht werden kann. Der photogrammetrische Scan selbst ist ebenfalls eine Kombination aus optischem Bild und post-optischem Bild.
Kannst du uns mehr über die Entstehung und Entwicklung der Hauptfigur Ernst Mo erzählen?
Ayoung Kim: Als ich das Projekt konzipierte, dachte ich, dass ich eine subtile queere Liebesgeschichte schaffen wollte. Zusteller*innen sind in der Regel einsam (weil sie alleine arbeiten und unterwegs sind). Ich stellte mir eine weibliche Zustellerin, „Ghost Dancer“, vor, die einer Person begegnet, die genauso aussieht wie sie und von ihr fasziniert ist. Es gibt unzählige Möglichkeiten für ihre Beziehung, so wie es unzählige Möglichkeiten für Welten in der Theorie der möglichen Welten gibt. Antagonismus, Mitgefühl, Zuneigung, Liebe, Sehnsucht und der Drang zu töten sind alles Zustände in möglichen Welten. Das sind die Arten, in denen zwei Entitäten existieren und sich zueinander verhalten können. Diese identische Dualität hat mich immer interessiert.
Für die Namen Ernst Mo und En Storm wollte ich mit Anagrammen spielen. Ich probierte einige Wörter mit einem Online-Anagrammgenerator aus, und das Wort „Monster“ ergab einige interessant klingende Namen. Im Allgemeinen sind Monster in unserer Gesellschaft diejenigen, die verleugnet werden und als Außenseiter*innen gelten. Die Nonkonformisten in dieser Welt werden leicht als Monster angesehen. Ernst Mo war früher eine perfekte Einheit in der vom Algorithmus (Dancemaster) beherrschten Welt, aber seit sie auf En Storm trifft, beginnt ihre solide Weltlogik zusammenzubrechen. Sie weicht von ihrem Weg ab und wird langsamer, was bei der Arbeit tödlich ist. Aber diese beiden Figuren sind nicht verzweifelt. Monster haben immer die innere Kraft, etwas voranzutreiben.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt der zeitgenössischen Kunst, zu der ich gehöre, einen ähnlichen Aspekt hat wie die Welt von Delivery Dancer. Sie ist sehr wettbewerbsorientiert und, auch wenn es nicht viele Leute sagen, neoliberal. Aber das Schöne daran ist, dass es immer diese unsichtbaren oder kaum sichtbaren Menschen gibt, die etwas bewegen. Ihre unermüdlichen Bemühungen ebnen den Weg für die Kunst.“
Ayoung Kim
Wie hoffst du, dass das Publikum dein Projekt wahrnimmt und welche Diskussionen und Ãœberlegungen erhoffst du dir von deinem Publikum in Bezug auf die von dir angesprochenen Thematiken?
Ayoung Kim: Wie sie wollen! Bei dem Projekt ging es mir darum, die für mich unsichtbare Welt zu spüren und wahrzunehmen und ebenso hoffe ich, dass das Publikum die Möglichkeit hat, darüber nachzudenken, wie es ist, in der heutigen Welt zu leben, die von der Gig Economy und On-Demand-Diensten umgeben ist. Oder sie können sich einfach an der subtilen Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, oder an den visuellen Elementen erfreuen
In ihrer facettenreichen Praxis synthetisiert Ayoung Kim die Ergebnisse weitreichender Spekulationen und stellt Verbindungen zwischen Biopolitik und Grenzkontrollen, den Erinnerungen von Steinen und virtuellen Erinnerungen sowie den Ursprüngen der Vorfahren und der nahen Zukunft her. Diese Erzählungen nehmen die Form von Videos, bewegten Bildern, virtueller Realität (VR), Spielsimulationen, Klangfiktionen, Diagrammen und Texten an, die die Künstlerin in Ausstellungen, Screenings, Performances, Theaterprojekten und Publikationen präsentiert. Kim integriert Geopolitik, Mythologie, Technologie und futuristische Ikonografie in ihre Arbeit, und sie sucht rückwirkend nach einer spekulativen Zeit, um die Gegenwart zu infiltrieren. Foto: Min Gyungbok