Wie können wir mit digitalen Avataren zusammenarbeiten? Wie funktionieren soziale Interaktionen in einer Welt, in der realer und virtueller Raum und unsere Präsenz in ihnen miteinander verschmelzen? Welche Technologien brauchen wir, um uns in solchen Räume nicht nur aufzuhalten und zu handeln, sondern sie auch gemeinsam zu gestalten?
SHARESPACE ist ein ambitioniertes Forschungsprojekt, das von der Europäischen Kommission gefördert und von 14 Partner*innen aus acht Ländern umgesetzt wird: Zwei Universitätskliniken, drei Universitäten, vier Forschungsinstitute, vier Unternehmen und das Ars Electronica Futurelab sind mit an Bord. Ziel ist es, neue Formen digitaler Interaktion zu entwickeln, die körperlich, sozial und emotional erfahrbar sind. SHARESPACE startete im Januar 2023 und endet im Dezember 2025.
Während die am Projekt beteiligten Universitäten und Forschungseinrichtungen die wissenschaftlichen Grundlagen und technologischen Umsetzungen verantworten, steuert das Ars Electronica Futurelab künstlerisch-experimentelle Perspektiven bei. Mittels hybrider Kunstwerke will das Team erforschen, welche neuen Möglichkeiten diese Technologie für die Medienkunst bieten kann.

Von MUDs bis Metaverse: Eine kurze Geschichte virtueller Welten
Virtuelle Welten begleiten uns schon länger, als man denkt. Alles begann in den 1970er Jahren mit den sogenannten Multi-User Dungeons (MUDs) – rein textbasierten Abenteuerspielen, bei denen mehrere Menschen gleichzeitig in einer gemeinsamen Welt, einer gemeinsamen Erzählung, agierten. Diese frühen Umgebungen waren der erste Schritt hin zu einem digitalen Miteinander.
In den 1980er Jahren ging es dann erstmals visuell zur Sache: Mit „Habitat“ brachte Lucasfilm eine der ersten grafischen Online-Welten für den Commodore 64 auf den Markt. Die 1990er Jahre führten uns erstmals in dreidimensionale Räume: Plattformen wie Active Worlds oder WorldsAway erlaubten es, Avatare zu gestalten und durch bunte 3D-Welten zu wandern.

Ein weiterer Meilenstein folgte 2003 mit Second Life – eine Welt, die nicht nur zum Erkunden, sondern zum Mitgestalten einlud. Menschen gründeten hier Firmen, gestalteten Ausstellungen, schlossen Freundschaften – alles in virtuellen Gefilden. Diese Entwicklung mündete in das, was wir heute immer wieder auch als das Metaverse diskutieren: grenzenlose, immersive Räume, in denen wir uns treffen, arbeiten, lernen, feiern, shoppen und lieben können.
Es ist eine Vision die im Übrigen stark polarisiert: Für die einen ist es die nächste Evolutionsstufe des Internets, ein Ort grenzenloser Möglichkeiten. Für andere steht es für Eskapismus, Überwachungskapitalismus und Realitätsflucht. Schon lange vor jeder technischen Umsetzung war das Metaverse Teil kultureller Vorstellungen. Der Begriff selbst wurde 1992 durch den Roman „Snow Crash“ von Neal Stephenson geprägt. Die im Jahr 2000 mit der Goldenen Nica des Prix Ars Electronica ausgezeichnete Dystopie entwirft eine frühe Vision des Metaverse. Auch der 2011 erschienene Bestseller „Ready Player One“ von Ernest Cline (und der von Stephen Spielberg produzierte gleichnamige Film) griff die Idee auf. Beides macht deutlich, wie stark unsere Vorstellung von Zukunft von Kunst und Kultur geprägt ist. Und natürlich ist da auch das Unternehmen, das sich 2021 nicht zufällig in „Meta“ umbenannte. Die ehemalige Facebook Inc. hat die Vision eines Metaverse zum zentralen Bestandteil ihrer Konzernidentität gemacht und versucht durch milliardenschwere Investitionen eine digitale Infrastruktur zu etablieren, die möglichst viele Lebensbereiche umfassen soll.

Wie sehen diese Welten aber heute konkret aus? Und wie lassen sich digitale und physische Realität miteinander verweben? Projekte wie SHARESPACE versuchen eine künstlerische wie technologische Antwort auf diese Frage zu geben. Im Zentrum stehen dabei Shared Hybrid Spaces (SHS): immersive XR-Umgebungen, in denen Menschen, ihre digitalen Avatare und KI-Agenten gemeinsam agieren und kooperieren können.
Ein Beispiel ist die interaktive Arbeit „Converge“, die zentrale Konzepte von SHARESPACE wie Bewegungsverstärkung, Kooperation und die Interaktion mit Avataren künstlerisch erlebbar macht und dabei die Rolle des menschlichen Körpers als zentrales Medium der Kommunikation in den Mittelpunkt rückt. In einer reduzierten Schwarz-Weiß-Umgebung treten bis zu zehn vor Ort anwesende Teilnehmer*innen mit einer Person in Kontakt, die remote über einen Motion-Capture-Anzug eingebunden ist. Alle Interaktionen erfolgen ausschließlich nonverbal, mittels Bewegungen und Körpersprache. Gemeinsam müssen die Teilnehmenden nun Aufgaben lösen, die nur durch präzise Abstimmung und Kooperation zu bewältigen sind. Es entsteht eine kollektive Dynamik, in der Synchronisation und soziale Verbundenheit nicht nur beobachtbar, sondern körperlich spürbar werden (embodied collaboration).
Projekte wie „Converge“ fokussieren auf den Menschen. Es geht um Verbindung und Vertrauen – und um die Frage, wie wir Technologie so gestalten und einsetzen können, dass sie unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten erweitert und nicht ersetzt.
Virtuelle Räume, reale Wirkung
Wir werden in Zukunft nicht mehr nur in Büros oder Werkhallen (zusammen-)arbeiten. Sondern immer häufiger auch in virtuellen Umgebungen, in denen wir auf Avatare treffen, die teils von anderen Menschen gesteuert oder auch rein KI-generierte Entitäten sein werden. SHARESPACE verknüpft Technologie, Forschung und Kunst um hybride Räume zu entwickeln, in denen physische und digitale Realität verschmelzen. Sei es im Gesundheitswesen, im Sport oder in der Kunst – es geht um Umgebungen, in denen “embodied collaboration“ zwischen Menschen und Avataren gelingen kann.
Im medizinischen Szenario wird etwa eine VR-basierte Rückenschmerztherapie getestet, die es Patient*innen ermöglichen soll, ihre Übungen zu Hause durchzuführen. Unterstützt werden sie dabei von den Avataren anderer Teilnehmenden – es entsteht ein motivierendes, kollaboratives Setting, das ortsunabhängig funktioniert. Die Forschung dazu wird von der Universitat Jaume I de Castelló koordiniert, die Therapie findet im Krankenhaus Vall d’Hebron in Barcelona statt.
Ein zentrales Prinzip im SHARESPACE ist die sogenannte Amplifikation: Bewegungen, deren Intentionen in der realen Welt kaum sichtbar sind – etwa ob jemand ein Glas Wasser trinken oder ausgießen will – können im virtuellen Raum so verstärkt dargestellt werden, dass ihre Bedeutung für andere eindeutig erkennbar wird. Dies hilft, unbewusste oder schwer interpretierbare Gesten in ihrer Absicht lesbar zu machen – und somit die Interaktion zwischen Mensch und Maschine deutlich zu verbessern.
Diese Idee wird auch in der Sportforschung angewendet. So analysiert das Team von Inria gemeinsam mit dem M2S Lab der Université Rennes 2 wie KI unterstützt durch Amplifikation dabei hilft, mikroskopische Signale in der Körpersprache von Radfahrer*innen zu erkennen – etwa die ersten Anzeichen einer „Attacke“, also eines plötzlichen Antritts von Fahrenden im Peloton.
Im Leistungssport entscheiden Bruchteile von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg. Wer frühzeitig erkennt, dass Mitfahrende angreifen wollen, kann schneller reagieren, sei es durch die eigene Tempoverschärfung, taktisches Positionieren oder gezielte Unterstützung im Team. Durch KI-gestützte Bewegungserkennung lässt sich dieser Moment digital rekonstruieren und für das Training nutzen: Sportler*innen lernen so, diese feinen Hinweise besser zu lesen.
Cyntha Wieringa ist Artist und Researcher am Ars Electronica Futurelab, und bringt es auf den Punkt: „Menschen sind keine perfekten Beobachter*innen. KI kann uns aber helfen, Bewegungsmuster sichtbar zu machen, die wir sonst übersehen.“
SHARESPACE steht exemplarisch für eine neue Generation europäischer Forschungsprojekte, die Technologie nicht nur entwickeln, sondern menschengerecht gestalten wollen. Während in physischen „Sharespaces“ erforscht wird, wie Mensch und Maschine etwa auf Baustellen, in Fabriken oder im Straßenverkehr zusammenarbeiten können, entstehen in virtuellen „Sharespaces“ neue Formen des sozialen Austausches zwischen Avataren, Bots und echten Menschen.
Im Gegensatz zu kommerziellen XR- und Metaverse-Projekten, die primär auf Effizienzsteigerung, Skalierung oder den Zweck der Unterhaltung abzielen, verfolgt SHARESPACE einen anderen Ansatz: Hier geht es um Teilhabe, ethische Reflexion, Kreativität, Emotionen und ein Miteinander.
Zwischen Cloud und Couch: Avatare im Kunstkontext
Das Ars Electronica Futurelab gestaltet den künstlerischen Zweig des Projekts. Experimente wie „Converge“, „Falcon Heavy“ und „State of Play“ schaffen immersive XR-Erfahrungen, die Synchronisation, Interaktion und emotionale Verbindung erlebbar machen. Dabei stehen Fragen im Raum wie: Wie fühlt es sich an, sich mit einem nicht-menschlichen Avatar zu synchronisieren? Kann eine virtuelle Figur echte Verbundenheit auslösen?
„Wir wollen das Unerwartete tun“, erzählt Cyntha. „Wir wollen die Technologie in eine Richtung biegen, die nicht vorgesehen ist und herausfinden, was passiert. Manchmal funktioniert das und manchmal nicht.“
Ein wichtiger Bestandteil von SHARESPACE ist der vom Ars Electronica Futurelab initiierte Open Call für Kunstschaffende. Dieser lädt internationale Medienkünstler*innen ein, die wissenschaftlichen und technologischen Konzepte des Projekts künstlerisch zu erforschen und zu interpretieren und eigene Werke für den Deep Space 8K zu entwickeln. Im Sommer verbringen sie mehrere Wochen vor Ort in Linz, um ihre Ideen zu testen und in performative Kunstwerke zu übersetzen, die dann im Rahmen des Ars Electronica Festivals präsentiert werden.

Ethik by Design: Verantwortung als Grundlage
Kollaboration mit Avataren, das klingt faszinierend, ist aber eine ethische Herausforderung. Kann virtuelle Nähe reale Begegnungen ersetzen, oder soll sie sie besser ergänzen? Wie können wir erkennen, ob ein Avatar empathisch reagiert, oder nur programmiert ist, uns zu spiegeln? Wer gestaltet die Regeln in einem Raum, den wir uns nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit „intelligenten“ Maschinen teilen? Und schließlich: Wie inklusiv sind solch‘ hochentwickelte Systeme wirklich? Werden sie breiten Zugang oder neue digitale Klüfte schaffen?
Bei SHARESPACE ist Ethik kein nachgelagerter Gedanke, sondern ein integraler Bestandteil jedes Arbeitsschrittes. Ein eigenes Ethik-Team begleitet den Prozess deshalb von Anfang an – nicht als moralische Instanz, sondern als reflektierendes Gegenüber. Es geht dabei um sechs zentrale Prinzipien: Vertrauen, Autonomie, Verantwortung, Datenschutz, emotionale Bindung und Transparenz.
Statt auf die perfekte Lösung zu hoffen, strebt SHARESPACE nach „Good enough ethics“. Warum? Weil ethische Perfektion unmöglich, eine durchdachte, kontinuierliche Reflexion aber unbedingt notwendig ist. In Workshops durchlaufen die Projektpartner*innen hypothetische Szenarien: Wie reagieren Schüler*innen auf emotionale Avatare in Lern-Apps? Wie transparent müssen Patient*innen über KI-gestützte Therapien informiert werden? Antworten gibt es nicht immer, dennoch ist es entscheidend, diese Fragen zu stellen.
Mensch und Avatar – ein geteilter Rhythmus
SHARESPACE berührt Themen, die uns alle betreffen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie wollen wir gemeinsam mit anderen Menschen lernen, arbeiten, unsere Freizeit verbringen und Dinge teilen, die uns bedeutsam erscheinen? Und wie können wir digitale Räume dafür gestalten, in denen wir uns sicher, respektiert, wahrgenommen und inspiriert fühlen?
„Spannend wird es, wenn der digitale Raum das Reale nicht verdrängt, sondern erweitert. Dann wird das Unmögliche plötzlich möglich.“
– Cyntha Wieringa
Wie immer liegt die Antwort nicht in der Technologie selbst, sondern in der Art, wie wir mit ihr umgehen wollen. Wie und wofür wollen wir sie entwickeln und einsetzen? Aus Sicht des Ars Electronica Futurelab ist klar, dass wir jede Menge Neugier, Ethik und Kreativität brauchen, um Innovation zu erreichen, die nicht bloß auf ökonomischen Gewinn und technischen Fortschritt abzielt, sondern uns Menschen und unsere Bedürfnisse ins Zentrum stellt.

Cyntha Wieringa
Cyntha Wieringa ist als Forscherin und Künstlerin am Ars Electronica Futurelab tätig. Ihr Hintergrund liegt in den Wissenschafts- und Technikstudien, wo sie über die ständige Ko-Kreation zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft lehrt – Themen, die sich nahtlos mit denen von Ars Electronica verbinden. Ihre Stärke liegt daher in der Förderung der Reflexion über technologische Innovationen in verschiedenen offenen Forschungsformaten. Während ihrer Zeit am Futurelab war sie in den XR-Forschungsprojekten SHARESPACE und NeXus Open Research sowie im Data Art & Science Project aktiv.