Im Jahr 1954 erschien in einem italienischen Verlag Giulio Einaudi Editore ein Sammelband mit Abschiedsbriefen, von Menschen, die im zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten und der Wehrmacht verfolgt, gefoltert und hingerichtet wurden. Frauen und Männer, zum Teil auch Jugendliche und Kinder. Das Vorwort dazu verfasste Thomas Mann und darin schrieb er:
“Das kehrt immer wieder, und das Herz zieht sich zusammen bei dem Gedanken, was aus dem “Sieg der Zukunft,” aus dem Glauben, der Hoffnung dieser Jugend geworden ist, und in welcher Welt wir leben. In einer Welt bösartiger Regression, in welcher abergläubischer und verfolgungssüchtiger Hass sich paart mit panischer Angst; einer Welt, deren intellektueller und moralischer Unzugänglichkeit das Schicksal Zerstörungswaffen von scheusslicher Rasanz anvertraut hat, die man aufstapelt unter der schwachsinnigen Drohung “wenn es denn sein muß,” die Erde in eine von giftigen Dünsten umhüllte Wüste zu verwandeln. Das Absinken des kulturellen Niveaus, die Verkümmerung der Bildung, die Stumpfheit im Hinnehmen von Untaten einer politisierten Justiz, Bonzentum, blinde Gewinngier, der Verfall von Treu und Glauben, erzeugt, jedenfalls gefördert von zwei Weltkriegen, sind ein schlechter Schutz gegen den Ausbruch eines dritten, der das Ende der Zivilisation bedeuten würde.“ (Thomas Mann)
Diese Warnung vor dem Immerwiederkehren “einer Welt bösartiger Regression“ steht am Anfang der großen Konzertnacht der Ars Electronica 2025, die, der aktuellen Weltlage folgend und dem 80jährigen Ende des zweiten Weltkriegs gedenkend, eine Neuproduktion der Oper Der Kaiser von Atlantis von Viktor Ullmann und Peter Kien präsentiert.
Diese Kammeroper, im vollen Titel Der Kaiser von Atlantis oder die Todverweigerung Der Kaiser von Atlantis oder die Todverweigerung (ursprünglich: Der Tod dankt ab) wurde 1943/1944 im von den Nazis euphemistisch “Ghetto“ genannten Internierungslager Theresienstadt geschaffen. Beide wurden 1944 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.
Unklar bleibt, wann Ullmann die Arbeit an der Oper begann und in welchem Umfang er das Libretto selbst schrieb, da der Maler und Schriftsteller Peter Kien erst nach Fertigstellung der Partitur in das Projekt einbezogen wurde. Die letzte Seite der 140seitigen Partitur, ist mit dem 8. November 1943 datiert und Viktor Ullman selbst hat Peter Kien am Titelblatt als Textautor genannt. Die Proben begannen im Sommer 1944, Bühnenbild und Kostüme stammen von Peter Kien. Zur Aufführung kam es aber nicht mehr. Zum einen soll es zu Unstimmigkeiten zwischen Komponisten und Regieteam gekommen sein, zum anderen fürchtete man zu Recht, die SS könnte die klaren Anspielungen erkennen und mit entsprechender Vergeltung reagieren. Das Autograf der auf der Rückseite von Häftlingsformularen und Deportationslisten geschriebenen Partitur gelangte über viele Umwege aus Theresienstadt
heraus. Es sollte aber bis 1975 dauern, bis das Werk zum ersten Mal in einer Bearbeitung von Kerry Woodward in Amsterdam aufgeführt wurde.
Die erste Aufführung in Deutschland fand 1985 in Stuttgart statt, dirigiert von Dennis Russell Davies, der auch die musikalische Leitung unserer Aufführung übernimmt. 1995 – 51 Jahre nach den ersten Proben – fand eine Aufführung in Terezín (Theresienstadt) statt.
Der Prolog
Das zitierte Vorwort von Thomas Mann leitet den Prolog des Programms ein, in dem die Kammermusik Nr.1 (1922) von Paul Hindemith an die Zeit vor dem 2. Weltkrieg, die Anfänge des Faschismus, gemahnt. Darauf nimmt auch die Klanginstallation Proklamation von Julian Pixel Schmiederer Bezug, die für die Eingangssituation der Gleishalle entwickelt wurde. Sie thematisiert die mediale Propaganda der 1930er-Jahre und schlägt damit eine Brücke zu den aktuellen Bedrohungen.
Zwischen den einzelnen Sätzen der Kammermusik Nr. 1 werden Auszüge aus der 1954 veröffentlichten Sammlung der Abschiedsbriefe von zu Tode Verurteilten gelesen.
Ebenfalls dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist das Projekt #eachnamematters gewidmet. Bei diesem seit 2021 von Mauthausen Memorial und Ars Electronica jährlich an verschiedenen Orten inszenierten Projekt, werden die Namen der über 82.000 in den Lagern des KZ Mauthausen ermordeten Menschen projiziert. Das Projekt wurde bisher auf den Außenmauern des KZ Mauthausen, der Gedenkstätte Gußen-Krematorium, dem Eingangsbereich der Stollenanlage “Bergkristall“ sowie auf den Fassaden der beiden in der Nazizeit in Linz errichteten Brückenkopfgebäude gezeigt.
Die Oper
Die Gleishalle der POSTCITY (dem Hauptspielort der AE seit 2015) ist als Bühnenraum für diesen Abend von vielfacher Symbolkraft. Da ist zum einen die monumentale Betonstruktur des 1992 eröffneten und mit einem massiven Atombunker ausgestatteten ehemaligen Postverteilzentrums, das 1992 eröffnet und schon 2015 wieder aufgelassen wurde – nicht zuletzt als Resultat des massiven Zuwachses von Online-Handel.
Zum anderen sind es die unmittelbare Nähe zum Bahnhof und die vier Gleisstränge, die direkt in die zur Bühne transformierten Halle führen, die unvermeidbare Assoziationen zur unvorstellbaren Dimension der industriell organisierten Menschen-Vernichtung des Holocaust und des zweiten Weltkriegs erwecken.
Dieser “totale Krieg gegen die Menschen und die Menschlichkeit“ ist auch das Thema der Opernparabel von Ullmann und Kien, die auf vielfache Weise die schreckliche Lebensrealität der nach Theresienstadt Deportierten spiegelt und damit nicht nur das unmenschliche System der Nationalsozialisten anklagt, sondern ein zeitloses Statement gegen Tyrannei und Unterdrückung ist.
Kaiser Overall von Atlantis herrscht als Tyrann über sein Land und proklamiert den totalen Krieg: alle gegen alle. Der Tod, erzürnt ob dieser Anmaßung, sieht sich seiner Aufgabe beraubt und verweigert sich, er streikt und dankt ab.
Nun kann aber niemand mehr sterben, die Soldaten können sich nicht gegenseitig Töten, zum Tode Verurteilte sterben nicht, das Land versinkt in Chaos und ohne die Drohung des Todes verliert der Kaiser seine Macht. Verzweifelt fleht er den Tod an, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Dieser willigt ein, stellt aber zur Bedingung, dass der Kaiser der erste sein müsse, der im folgt. Der Kaiser akzeptiert und verabschiedet sich mit einer großen Arie aus dem Leben. Damit ist das Gleichgewicht des Lebens wiederhergestellt.
Figuren wie “der Lautsprecher“ oder “der Trommler, eine nicht ganz wirkliche Erscheinung wie “das Radio“” reflektieren die von den Nationalsozialisten perfekt inszenierte Maschinerie von Propaganda und Manipulation. Der philosophische Dialog zwischen Tod und Harlekin stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens – “Das Leben das nicht mehr lachen und das Sterben, das nicht mehr weinen kann“ – und natürlich gibt es eine Liebesgeschichte: Ein Soldat und ein Mädchen wählen die Liebe statt des Tötens.
Als Oper, die gegen alle Widrigkeiten, Entbehrungen und Schrecken des Ghettos und im Bewusstsein der jederzeit möglichen Deportation in ein Vernichtungslager komponiert wurde, ist Der Kaiser von Atlantis ein beeindruckendes Beispiel für Widerstand und schöpferischen Willen, doch verdient dieses Werk alle Beachtung auch durch seinen künstlerischen Wert weit über die Umstände seiner Entstehung hinaus. So verwendete Ullmann in Der Kaiser von Atlantis auch Modetänze wie Blues und Shimmy und arbeitete mit Zitaten aus bekannten Werken oder Melodien, um bestimmte Aspekte der Handlung zu verdeutlichen. Das Motiv des Todes ist Suks Asrael und Dvořáks Requiem entnommen, als parodierende Anspielung auf den Kaiser Overall und “sein“ Land zitiert er Passagen der deutschen Nationalhymne und Luthers ehrwürdigen Choral Ein feste Burg ist unser Gott.
Programm
Kammermusik No.1—Paul Hindemith
Filharmonie Brno (CZ), Dennis Russell Davies (US/AT), Angela Waidmann (DE),
Cori O‘Lan (AT)
Der Kaiser von Atlantis—Viktor Ullmann, Peter Kien
Filharmonie Brno (CZ), Kaiser (Bariton): Martin Achrainer (AT), Tod (Bassbariton): Michael Wagner (AT), Der Lautsprecher (Bassbariton): Ulf Bunde (DE), Harlequin (Tenor): Balint Nemeth (HU), Ein Soldat (Tenor): Gregor Reinhold (DE), Bubikopf (Sopran): Chinara Azimova (AZ), Der Trommler (Alt): Rongna Su (CN)
Musikalische Leitung: Dennis Russell Davies
Regie: David Bösch
Visualisierungen: Cori O’Lan
Lichtdesign and Setdesign: Julian Pixel Schmiederer
Kostüme: Bianca Stummer
Filharmonie Brno, dirigiert von Dennis Russell Davies
Pavel Wallinger (Violine), Jiří Víšek (Violine), Petr Pšenica (Viola), Lukáš Polák (Violoncello), Marek Švestka (Kontrabass), Martina Venc Matušínská (Flöte), Anikó Kovarikné Hegedüs (Oboe), Jana Krejčí (Klarinette), Jiří Klement (Saxofon), Dušan Drápela (Fagott), Ondřej Jurčeka (Trompete), Petr Hladík (Schlagwerk), Maximilian Jopp (Schlagwerk), Veronika Jurčeková (Klavier), Lukáš Mičko (Gitarre), Jaromír Zámečník (Akkordeon)
Musikalische Assistenz: Daniel Linton-France
Pianistin: Elizabete Sirante
Produktions-Internship: Isabel Davies
Auszug Text von Thomas Mann: Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand, herausgegeben von Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli; Vorwort von Thomas Mann, München: dtv, 1962. [Original: Lettere di condannati a morte della resistenza europea. A cura di Piero Malvezzi e Giovanni Pirelli. Prefazione di Thomas Mann. Editore: Einaudi, Torino, 1954.]