Golden Nica
Being
Rashaad Newsome (US)
Being ist eine soziale humanoide Künstliche Intelligenz, die vom interdisziplinären Künstler Rashaad Newsome geschaffen wurde. Die erste Generation von Being wurde im Frühjahr und Sommer 2019 mit der Unterstützung des LACMA Art + Technology Lab Grant ins Leben gerufen. Sie nutzt eine Kombination aus 3D-Animation, Game-Engines, geskripteten Antworten, generativen Grammatiken und speziellen Machine-Learning-Modellen, die einen antihegemonialen Algorithmus verwenden.
Being leitet partizipatorische Workshops, die Dekolonisierung durch eine Kombination aus Vortrag, kritischem Denken, Tanz, Storytelling, Konversation und Achtsamkeitsmeditation lehren und die Teilnehmenden dazu anleiten, die Auswirkungen der Herrschaftskultur auf ihr Leben zu analysieren und Ansätze für positive Veränderungen zu finden. Darüber hinaus drückt sich Being kreativ aus, mit kontinuierlichem Verfassen und Vortragen von Gedichten, die von der Arbeit des Queer-Poeten Dazié Rustin Grego-Sykes inspiriert sind. Diese Lesungen werden von einem diasporischen ASMR-Soundscape begleitet, das von Rashaad und Robert Aiki Aubrey Lowe komponiert wurde. Die Geräuschkulisse wirkt wie eine klangliche Mischung aus kulturspezifischen Klängen, die in einer von Newsome durchgeführten Befragung von über 80 Black People als beruhigend empfunden wurde. Being ist eine Neuinterpretation von nicht-eurozentrischen Archiv- und Bildungsmodellen wie dem Griot, einer westafrikanischen Kulturfigur, die als Historiker, Bibliothek, Performance-Künstler und Heiler fungiert. Dieser Bildungsansatz bietet neue Möglichkeiten für Forschung, Reflexion, Aktion und eine neue intellektuelle Erfahrung für alle Menschen.
Jurystatement
Das von Gayatri Spivak 1985 eingeführte postkoloniale Konzept des “worlding” behauptet, dass die „Macht“ des Worlding eine Macht ist, die aufzeichnet und „belehrt“. Es ist eine Kartografie des In-der-Welt-Seins, die die Kolonisierten zwingt, den herrschenden Rahmen der Unterdrückung zu verkörpern. Kultureller Widerstand gegen diese Legitimationsnormen und Ideen blühte während der Harlem-Renaissance (1920–1935). Dieses schwarze kulturelle Mekka brachte eine eindeutig schwarze und lateinamerikanische LGBTQ+-Performance-Kultur hervor, in der Identitätsaspekte wie Rasse, Geschlecht und Sexualität als fluide und sich überschneidend gefeiert wurden. Schwarze Körper, die sich sicher bewegen können und in vergessenen Rhythmen dahingleiten, waren auf einmal en vogue! Marionetten, die an heiligen, verborgenen Fäden hängen – wie die Künstliche Intelligenz Being (2019–2022) in Rashaad Newsomes monumentaler, feierlicher Installation Assembly (2022). Die Ballroom-Szene mit ihrem verkörperten Lexikon wird in Workshops, großformatigen Video-Mappings, einer Collage- und Skulpturen-Installation und einer Performance zelebriert. Newsomes orakelhafte Künstliche Intelligenz Being (2019–2022) vereint die verschiedenen Teile von Assembly (2022) und führt das Publikum mit seiner nicht geschlechtsspezifischen Stimme und seinen sprachlichen Körperbewegungen. Als hoch aufragender, humanoider Bronzekoloss verdeutlicht Being (2019–2022) das Voguing als philosophisches Ereignis des spirituellen Wiedererwachens und als politisches Projekt mit der Fähigkeit, die orthodoxe Weltsicht zu durchbrechen. Rashaad Newsomes dunkle, heilige Hallen sind Zeuge von Akten psychogeografischer Poesie. Ein zutiefst nachdenkliches Meisterwerk des Ent-Worlding.
Credits
Mit Unterstützung von: LACMA Art &Technology Lab, Stanford Institute for Human-Centered Artificial Intelligence (HAI), Knight Arts + Tech Fellowship und Park Avenue Armory.
www.beingthedigitalgriot.com
https://vimeo.com/711025868
Award of Distinction
Absence
Marc Hericher (FR)
Ein Obdachloser bricht durch Gewalteinwirkung zusammen und kauert wie eingefroren auf allen Vieren. Das plötzliche Interesse der Journalist*innen an diesem Mann führt uns in einen grotesken und absurden Medienstrudel.
Dieses Projekt entstand aus dem Interesse des Künstlers an der journalistischen Verarbeitung von Informationen, insbesondere zu immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Themen. In Frankreich bezeichnet der Begriff marronnier journalistique („immer wiederkehrendes Thema“) eine Nachricht, die Jahr für Jahr zur gleichen Zeit auftaucht. Die Medien nutzen diese banalen Nachrichten, um Phasen ohne interessante Neuigkeiten zu füllen. Wir bestehen oft darauf zu betonen, dass sie uninteressant sind, wie z. B. Ferienbeginn, schwarze Freitage oder der Beginn des Schuljahres. Aber die Nachricht, die mich interessiert, ist alles andere als trivial: die Situation der Obdachlosen im Winter, die symptomatisch ist für eine Gesellschaft, die mit der Zunahme der Klassenunterschiede überfordert ist und deren Ursachen nicht versteht. So stellt sich die Frage nach der Rolle der Medien in unserer Gesellschaft: Wie soll man ein Problem, das sich von Jahr zu Jahr verschlimmert, verstehen, wenn es nur zyklisch und oberflächlich behandelt wird und man sich bloß auf die Symptome konzentriert?
Jurystatement
Marc Hericher's schwindelerregender Single-Shot-Film ist eine allegorische Geschichte über die soziopolitische Identität eines Mannes, die seine unmittelbare menschliche Präsenz in den Hintergrund drängt. Wir sehen, wie diese fein mit CG modellierte Figur auf einem städtischen Platz zusammenbricht – eine Umgebung, die an ein kahles Theaterset erinnert, wie man es bei der Inszenierung eines Samuel-Beckett-Stücks finden könnte. Die unfreiwillige Aktion des Protagonisten löst einen Medienzirkus, Selfie-Shootings und schließlich eine im Fernsehen übertragene politische Debatte aus. Während sich diese Figur langsam von einem Wesen aus fein gemeißeltem Fleisch in einen schmelzenden Eisblock verwandelt, haben wir das absurde Gefühl, dass bei der Behandlung dieses Mannes etwas fehlt: Einfühlungsvermögen, Sorgfalt, grundlegende Rücksichtnahme. In einer atemberaubenden Demonstration technischen Könnens und stilvoller Ästhetik lässt uns dieser Film mittels einer grotesken Darstellung menschlicher Abwesenheit über die Beziehung zwischen Journalismus, Politik und Informationsaustausch nachdenken.
Credits
Regie, Drehbuch: Marc Hericher
Animation: Florian Durand, Thomas Salas, Daniela Metheyer, Marc Hericher
Ton, Musik: Eric Cervera
http://marc-hericher.com/project/absence/
Award of Distinction
Anxious Body
Yoriko Mizushiri (JP)
Sensibel, fließend, körperlich, erotisch, meditativ, melancholisch und feminin – die Filme, Installationen, Musikvideos und Designs von Yoriko Mizushiri bieten dank ihrer meisterhaften Beherrschung von Linie und Bewegung, der perfekten Wahl des Lichts, des Einsatzes von „körperlichen Farben“ wie Rosa und Violett und des Verzichts auf überflüssige Emotionalität in Gesicht und Augen neue Perspektiven auf einzelne Körperteile. Ihre handgezeichneten Animationen bieten haptische Anregungen, tauchen in Fragmente des täglichen Lebens, in winzige Gesten und Momente ein und lassen tief in die Abgründe des Unbewussten blicken. Der gelassene Rhythmus von Mizushiris Arbeiten öffnet den Zuschauer*innen die Tür zu einer ganz persönlichen Interpretation.
Jurystatement
Wir sprechen oft über die Macht der Bilder, die den Verstand manipulieren, aber auch uns heilen können. Ein Bild, das unsere Sinne anspricht, ein Bild, das mehr fühlt als intellektualisiert und das unseren Körper direkt anspricht, in einer Körper-zu-Körper-Beziehung via Bildschirm. Das ist es, was Yoriko Mizushiri provozieren will: Einfühlungsvermögen durch die Sanftheit der Farben, Kurven und geometrischen Formen, denen wir täglich begegnen, aber auch Gefühle der Fremdheit, des körperlichen Unbehagens und der Angst, sodass die Zuschauer diese taktile und sinnliche Animation „in ihren Eingeweiden“ spüren können.
Credits
Regie, Storyboard, Animation, Schnitt: Yoriko Mizushiri
Miyu Productions: Emmanuel-Alain Raynal, Pierre Baussaron
New Deer: Nobuaki Doi
In Auftrag gegeben von: Towada Art Center, Kuration: Kodama Kanazawa, Meruro Washida
Sound: Yuka C. Honda
Titelgestaltung: Yosuke Nakanishi (Studio PT.), Hiroko Terawaki
5.1 Sound Remix: Seigen Ono
Mit Unterstützung des Centre National du Cinéma et de l’image animée
Honorary Mention
Ad Hominem
Alex Verhaest (BE)
Change („Wandel“) ist ein alter Revolutionär, der in seine Heimatstadt zurückkehrt und nach Anerkennung für seine Taten sucht. Bei seiner Ankunft stellt er fest, dass ihm zu Ehren eine Veranstaltung organisiert wird. Change spricht mit vier Personen, die ihn zu der Veranstaltung führen, aber unterschiedliche Ansichten darüber zu haben scheinen, was Change in Zukunft bringen soll. Change muss sich für eine Antwort auf ihre Fragen entscheiden und wird für alle Antworten beurteilt. Am Ende wird klar, dass Change nie wirklich willkommen ist.
Ad Hominem ist ein interaktiver philosophischer Choose-Your-Own-Adventure-Film, der auf Sofie Verhaests brillanter Doktorarbeit Eutopia Unbound basiert und in dem die Spieler*innen in die Rolle von „Change“ schlüpfen. Sie werden aufgefordert, eine Antwort auf Fragen zu wählen, die von vier verschiedenen Charakteren gestellt werden, die vier unterschiedliche utopische Ideen repräsentieren.
Jurystatement
Das Labyrinth aus historischen Zitaten über Kollektivismus, Individualismus, progressives Denken und Konservatismus regt zum Nachdenken über verschiedene Entscheidungen und radikale Veränderungen an, mit denen wir nach der Pandemie plötzlich konfrontiert wurden. Das Werk ist insofern einzigartig, als es die Spieler*innen mit den Fragen und Problemen der modernen Gesellschaft konfrontiert, die im Spiel auf der Metaebene durch humorvolle Visualisierungen und Erzählungen geschickt abstrahiert werden.
Credits
Buch und Regie: Alex Verhaest
Produktion: Melissa Dhondt
Kamera: Korneel Moeyaert
Kostümdesign: Gudrun Wylleman
Musik, Sounddesign und Mix: Théo Pogoza
Ad Hominem wurde unterstützt von Flanders Audiovisual Fund (VAF); Kunsten en Erfgoed – Flemish Government; Fédération Wallonie-Bruxelles; Stad Roeselare; Cultuurcentrum De Spil; Barakat Contemporary, Seoul; in Hinterland
Honorary Mention
Unless
Deborah Joyce Holman (CH/GB), Yara Dulac Gisler (CH)
Unless ist eine experimentelle Dokufiktion, die fünf Figuren durch alltägliche, rituelle Situationen im unheimlichen Basler Industrieviertel Dreispitz begleitet. Das Projekt entstand aus meiner längerfristigen Beschäftigung und Recherche zur Figur des Tricksters, die sich durch „ihre politischen Gesten auszeichnet, insofern sie eine Taktik der scheinbaren Konformität sind und gleichzeitig ein gewisses Maß an Selbstermächtigung bewahren; ein Mittel, um im Rahmen der Macht zu arbeiten, ohne sich deren ‚Wahrheiten‘ vollständig zu eigen zu machen“ (Jean Fisher).
Diese Figur steht im Mittelpunkt von Unless und entstand aus der Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet, für die Kamera zu performen, da sich ein Großteil meiner Arbeit mit Strategien der Verweigerung beschäftigt. Unless erforscht das Potenzial von Intimität und Unlesbarkeit an der Grenze zwischen einer Gruppe und dessen, was außerhalb von ihr liegt. Hier baut sich eine Gruppe junger Menschen eine Raumzeit, die allein durch die auf Intimität und Solidarität aufbauenden Interaktionen der Trickster charakterisiert ist. Dieser Raum ist durch einen immerwährenden Sonnenuntergang gekennzeichnet, der ein „Anders“ bedeutet, da er Parallelen zu einer generativen Raumzeit für diejenigen zieht, die lebbare Blasen schaffen, also durch Undefinierbarkeit und Fabuliererei bewohnbare Räume.
Jurystatement
Die Schweizer Künstlerinnen Deborah Joyce Holman und Yara Dulac Gisler eröffnen ihr Video-Triptychon Unless (2021) mit einem Paar schwarzer Hände mit krallenartigen Nägeln, die gerade manikürt werden, von der Rückseite gefilmt um die seltene Perspektive von unterhalb des Nagels zu zeigen. Es ist ein klassischer Trickster-Move, der dazu dient, Verwirrung ins Denken zu bringen. Hier verschmelzen normalerweise gegensätzliche Gedanken über Raubtiere und Selbstfürsorge, während sich dieses bewegte Bildgedicht in nicht-linearer Zeit entfaltet. Das Basler Industrieviertel Dreispitz verwandelt sich durch die Magie des Geschichtenerzählens in eine dystopische Sci-Fi-Landschaft, in der eine Gruppe von Trickstern Rituale mit Wasser und Brotbrechen durchführen. Heiliges Wasser plätschert durch die Leinwand, friert die Zeit ein und zerreißt die Geräuschkulisse. Körper, die sich bewegen, Körper, die mit einer schweizerdeutschen Erzählung zusammenarbeiten, widersetzen sich den monolithischen Darstellungen von Schwarzsein, wie sie in den Medien des US-amerikanischen Diskurses präsentiert werden. Unless (2021), das in der Trickster-Zeit spielt, ist ein Werk des Trickster-Himmels.
Credits
Ein Moving Image Project von Yara Dulac Gisler & Deborah Joyce Holman
Performer*innen: Yara Dulac Gisler, Deborah Joyce Holman, Mirco Joao Pedro, Cynthia Matumona, Suhyene Iddrisu
Kamera: Jumana Issa
Bildregie: Jelena Luise
Tontechnik: Ananda Schmidt
Styling und Make-up (Konzept): Desmond Chan
Assistenz für Haare, Make-up und Styling: Jahsiri Asabi-Shakir, Chaïm Vischel
Produktionsassistentin: Caroline Honorien
Set-Assistent*innen: Joy Asumadu, Glenn Asumadu, Timon Essoungou, Imani Fux, Alice Lushima, Sera Ndlovu, KT Omole, Fatima Salum , Nahom Weldemehret
Schnitt: Deborah Joyce Holman, Rodan Tekle (von Studio Junbi)
Farbkorrektur: Natacha Ikoli
Partitur: Yara Dulac Gisler, Deborah Joyce Holman
The Bells (Remix) – Bearcat: Yara Dulac Gisler, Deborah Joyce Holman, Dion McKenzie
Abmischung: Jackie Poloni
Mastering: Russell E. L. Butler, Merlin Züllig
Grafische Gestaltung: Ann Kern
Lektorat Untertitel: Imani Robinson, B. Covington Sam-Sumana
Exterior Eye: Jeremy Nedd
Besonderer Dank an: Atelier Mondial, Ali-Eddine Abdelkhalek, Hochschule für Kunst und Gestaltung Basel, Julie Machin, Flavio Luca Marano, Ivy Monteiro, None Nissen, Uncle Naa Dom aka Fred Biney, David Nana Opoku Ansah, Philip Ortelli, Point de Vue Basel, Jonas Schaffter
In Auftrag gegeben von Explorers Film Club, mit großzügiger Unterstützung von Pro Helvetia Stiftung und Jugendkulturpauschale Basel-Stadt