Bellingcat: Auf Spurensuche in der digitalen Welt

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Es ist nicht nur JournalistInnen vorbehalten, Fakten im Internet recherchieren und zu überprüfen. Mit ihren Anleitungen und Guides bietet Bellingcat Hilfestellungen für all jene an, die als Citizen-Journalists aktiv werden und mit Hilfe von frei zugänglichen Tools im Internet Fakten und Beweise recherchieren wollen. Für diese gemeinsame Spurensuche wurde Bellingcat kürzlich mit der Goldenen Nica in der Kategorie „Digital Communities“ des Prix Ars Electronica 2018 ausgezeichnet. Wir haben uns mit dem Gründer von Bellingcat, Eliot Higgins, über das Projekt näher unterhalten.

Was war der erste Fall, der über Bellingcat analysiert wurde und was kam dabei heraus?

Eliot Higgins: Die wahrscheinlich erste große Recherche war der Fall des Flugzeugabsturzes der MH17, der nur wenige Tage nach dem offiziellen Start von Bellingcat auftrat. Es war ein echter Antrieb für uns, für die Arbeit von Bellingcat und für einen breiteren Einsatz von Open-Source-Recherchen in verschiedenen Bereichen. Dadurch konnten unterschiedliche Beweise aufgedeckt werden, die nicht nur den Staat dafür verantwortlich machen sollten, sondern auch die mit dem Fall verbundenen Personen identifizierten. Auch die offizielle strafrechtliche Untersuchung stützte sich auf die Daten der Open-Source-Recherchen, und ich kann an keinen anderen Kriminalfall denken, in dem so eine große Menge an relevanten Open-Source-Informationen im Spiel gewesen sind. Was das Endergebnis betrifft, liegt der Ball letztendlich bei den Gerichten, aber was mit der MH17 tatsächlich passiert ist, das wird dank der Open-Source-Untersuchung jeden Tag klarer.

In Zeiten von Fake News ist die gemeinsame Analyse von digitalen Quellen ein vielversprechendes Instrument. Aber wie geht Bellingcat mit Fehlern um?

Eliot Higgins: Wir versuchen, diese gar nicht erst zu machen. Normalerweise wird jede Aussage, die wir veröffentlichen, zuerst geprüft: Durch den Grad ihrer Zuverlässigkeit, den wir auf der Grundlage der verfügbaren Beweise feststellen können, und durch die Wahrscheinlichkeit, dass andere Szenarien auf Grundlage der verfügbaren Beweise ebenso wahr sind.

Bellingcat bietet auch Anleitungen an, wie man sich selbst an diesen Untersuchungen beteiligen kann. Können Sie uns einige Beispiele für diese Tools nennen?

Eliot Higgins: Die wichtigsten Tools, an die man beim ersten Mal vielleicht gar nicht denkt, sind Suchmaschinen – insbesondere Google -, die jeder Benutzerin und jedem Benutzer Zugang zu einer riesigen Menge an Informationen geben. Selbst wenn man einige einfache Suchtechniken kennt, wie das Setzen von Datumsbereichen oder die Suche nach Begriffen in Anführungszeichen, dann kann jede und jeder diese Dienste effektiver nutzen. Es ist gerechtfertigt zu sagen, dass viele Google-eigene Plattformen die aktuellen Open-Source-Recherchen erst zu dem gemacht haben, was sie heute sind. YouTube liefert riesige Mengen an Videomaterial aus der ganzen Welt, Google Earth liefert Satellitenbilder aus der ganzen Welt, Google Street View stellt Referenzbilder zur Verfügung, um zu prüfen, dass vorhandene Bilder an einem bestimmten Ort auch tatsächlich aufgenommen wurden. Dies sind benutzerfreundliche Tools, die jede und jeder mit einer Internetverbindung verwenden kann – und es sind die zentralen Tools bei der Open-Source-Recherche.

Wenn wir Leute in die Thematik einführen, dann sagen wir ihnen, dass sie eigentlich eher ein investigatives Toolkit zur Hand haben, und nicht nur ein oder zwei Tools, die alles können. Die Leute lernen, ein Problem zu untersuchen und legen dann anhand ihrer Erfahrungen aus früheren Untersuchungen die Werkzeuge und Methoden fest, die am ehesten die Ergebnisse liefern, nach denen sie suchen. Durch Erfahrung entdecken sie immer mehr über die Tools und wissen schließlich auch, welche Tools es gibt. Zum Beispiel, dass Google Street View historische Bilder hat, dass Yandex Maps seine eigene Version von Bildern im „Street-View-Stil“ hat, dass sie historische Satellitenbilder auf Google Earth finden können, und dass Terraserver noch viel mehr historische Satellitenbilder gespeichert hat, die eher auf dem neuesten Stand ist.

„Mein Rat für alle, die mit diesen Untersuchungen beginnen möchten, ist: Probiert es einfach aus! Der Prozess, nach etwas zu recherchieren, wird an sich eine Lernerfahrung sein, und dieser muss am Anfang gar nicht groß sein.“

Versuchen Sie, bei einem Video herauszufinden, wo es gedreht wurde, schreiben Sie dies auf und berichten Sie darüber auf einem Blog, wie Sie zu dem Schluss gekommen sind. Sie müssen die Ergebnisse niemandem mitteilen, aber der Prozess der Recherche und die Erläuterung auf eine klare, prägnante und gut ausgearbeitete Weise – das ist eine Lernerfahrung, die zu größeren Dingen führen kann.

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Screenshot von bellingcat.com

Gerade wenn es um Fragen geht, bei denen Menschen getötet wurden oder bei denen es um finanzielle Interessen von Großunternehmen geht – ist es nicht ein großes Hindernis, sich damit zu beschäftigen und damit vielleicht die eigene Person oder gar die eigene Familie zu gefährden?

Eliot Higgins: Russland hat Bellingcat und mich über die Medien und über Cyber-Angriffe sehr proaktiv angegriffen. Vor kurzem haben das russische Außenministerium und das russische Verteidigungsministerium wiederholt behauptet, dass wir gefälschte Beweise verwenden, ohne konkrete Anhaltspunkte vorzulegen, auch wenn ich sie wiederholt darum gebeten habe, und verschiedene Anschuldigungen über Bellingcat von pro-russischen und russischen staatlich finanzierten Medien erhoben wurden. Wir hatten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Versuchen, auf unsere E-Mail-Konten zuzugreifen, und unsere Website wurde vom russischen Staat über Cyber Berkut gehackt. Wenn wir in Russland leben würden, wären wir sicher bedrängt, bedroht und beschimpft worden, wie es vielen JournalistInnen in Russland geht, wenn sie der Regierung kritisch gegenüberstehen, aber wir haben das Glück, uns nicht unter diesen Umständen zu befinden. Das passiert, wenn man sich gegen Tyrannen und Kriminelle wehrt.

Als Journalist sind Sie seit vielen Jahren auf der Suche nach der Wahrheit. Was haben Sie bei Ihrer Recherche gelernt – müssen wir zuerst immer den schlimmsten Fall annehmen und davon ausgehend die Fakten sammeln?

„Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass wir ziemlich schlecht darin waren, das Beste aus den Informationen zu machen, die bereits da draußen sind.“

Eliot Higgins: Was mich immer wieder überraschte, war, wie oft ich jemanden in Syrien erreichte, den ich auf Facebook oder Twitter gefunden hatte, der genau an der Stelle eines Vorfalls war, über den ich gerade schrieb, oft sehr große Vorfälle, die internationale Aufmerksamkeit erregten, und ich war die erste und oft einzige Person, die denjenigen erreichte. Das war großartig für mich, da ich einzigartige Informationen und Materialien bekommen konnte, aber ziemlich schlecht für das öffentliche Verständnis der Ereignisse im Konflikt, da ich nicht jedes einzelne nennenswerte Ereignis selbst betrachten konnte.

Von da an ist es auch ziemlich alarmierend, wie viel nicht berichtet wird und unbemerkt bleibt, selbst wenn es viele Informationen darüber gibt. Während die meisten Menschen von dem Giftgasangriff von Chan Schaichun am 4. April 2017 gehört hatten, hat kaum jemand von dem Giftgasangriff am 30. März 2017 im nahen Al-Lataminah gehört. Schuld daran war die vergleichsweise geringe Anzahl von Fällen, aber es war dieselbe Art einer chemischen Bombe und dasselbe Giftgas wie beim Angriff vom 4. April, aber niemand hat davon erfahren. Es fand einfach nicht statt, weil es nicht groß genug war, um in die Nachrichten zu kommen. Und weil es in der Masse an Meldungen aus Syrien einfach verloren ging. Die meisten Leute würden wahrscheinlich sagen, dass es mehrere chemische Angriffe in Syrien gegeben hat, tatsächlich waren es aber über 200 bis 300, aber weil nur ein winziger Bruchteil führt dazu, dass Massenkausalitäten nicht gemeldet werden, was einen falschen Eindruck davon erweckt, wie chemische Waffen in Syrien eingesetzt werden, und was an sich zu Verschwörungen über die große Angriffe führt.

Seit Beginn der Fotografie wurden Fotos manipuliert, die künstliche Intelligenz macht es jetzt noch einfacher und leichter, Videos zu verändern. Wie können wir besser auf die Zukunft dieser stark visuell geprägten Welt vorbereitet sein?

Eliot Higgins: Ein Bild existiert nicht nur als ein Objekt, das in einer digitalen Leere schwebt, sondern sowohl innerhalb des Bildes als auch an dem Ort, wo wir dieses Bild finden, gibt es eine große Anzahl von Informationen, die es mit anderen Informationen verbinden und sich damit ein riesiges Netzwerk von miteinander verbundenen Informationsobjekten schaffen lässt. Wenn ein Ereignis eintritt, erzeugt es Echos und Wellen in dieser digitalen Umgebung da neue Informationen erzeugt werden, und was wir tun ist, diese Umgebung zu erforschen und nach diesen Echos und Wellen zu suchen. Ein Buk-Raketenwerfer wird am 17. Juli 2014 durch die Ostukraine transportiert, es werden Fotos und Videos aufgenommen, in sozialen Medien diskutiert, ein vorüberfliegender Satellit nimmt ein Bild davon auf. Wir finden ein Foto des Raketenwerfers, wir sehen ein Geschäft im Hintergrund, wir finden die Adresse des Ladens, indem wir online ein Gerichtsdokument über eine Auseinandersetzung entdecken, der im Laden stattgefunden hat, das uns den genauen Standort und das Filmmaterial der Dashboard-Kamera zeigt, das von einem Einheimischen gefilmt und auf YouTube gepostet wurde und uns damit erlaubt, den genauen Standort des Bildes zu bestätigen.

Das verhindert zwar nicht, dass Menschen Dinge teilen, ohne sie zu überprüfen, ob sie wahr sind oder nicht. Und während wir diese Echos und Wellen genauer untersuchen, kann sich in Windeseile im Internet Unsinn verbreiten. Sollten wir zynischer werden, sollten wir aufhören, Dinge zu teilen, sollten wir uns abmelden? Es ist wahrscheinlich, dass die Leute weiterhin Müll teilen, aber wir können zumindest versuchen, sicherzustellen, dass es mehr Leute gibt, die sich ernsthaft mit Themen beschäftigen und den Dingen nachgehen werden.

Hinweis: Die Prix-Foren des Ars Electronica Festival 2018, das von 6. bis 10. September 2018 in Linz stattfinden wird, widmen sich auch dieses Jahr den GewinnerInnen des Prix Ars Electronica. Treffen Sie die Persönlichkeiten hinter den Projekten und erfahren Sie mehr über ihre Arbeit!

Eliot Higgins

Eliot Higgins ist ein preisgekrönter investigativer Journalist und Gründer des Brown Moses Blogs und von Bellingcat. Er veröffentlicht die Arbeit einer internationalen Allianz von Forscherkollegen mit frei zugänglichen Online-Informationen. Er hat bei der Einführung von Open-Source- und Social-Media-Recherchen geholfen, indem er riesige Datenmengen, die ständig auf das Internet und Social-Media-Websites hochgeladen werden, durchsucht hat. Seine Untersuchungen haben außergewöhnliche Erkenntnisse zu Themen wie dem Absturz des Fluges MH17 in der Ukraine und dem Einsatz von Chemiewaffen in Syrien ergeben. Derzeit ist er Gastwissenschaftler am Centre for Science and Security Studies (CSSS) am Department of War Studies am King’s College London und Gastwissenschaftler am Human Rights Center der UC Berkeley. Zusätzlich zu seiner akademischen Arbeit ist er auch ein Senior Fellow bei der Future Europe Initiative des Atlantic Council, wo er einen umfassenden Bericht über die Beteiligung Russlands an den Konflikten in Syrien und der Ukraine auf Grundlage von Open-Source-Untersuchungen erstellt hat.

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