create your world zwischen unangenehmen Wahrheiten und sinnlosen Pflichten

credit: Stoebich

2023 steht create your world unter dem Motto truth or dare (Wahrheit oder Pflicht) und greift damit das Festivalthema auf eine kritische Art und Weise auf. Der Hintergrund dieses Titels ist weniger spielerisch als die Projekte, die während des Ars Electronica Festival 2023 für Besucher*innen wichtige Themen anschaulich aufbereiten. Hans Christian Merten, Leiter von create your world, erzählt mehr über das Thema und die Highlights der diesjährigen Ausstellung.

Was war die Grundidee des create your world Festival und wie hat sich diese im Laufe der Jahre weiterentwickelt?

Hans Christian Merten: Die Grundidee von create your world entspricht eigentlich nach wie vor dem ursprünglichen Ansatz. Es hat angefangen mit der u19 Exhibition als Herzstück – das heißt mit den Gewinner*innenprojekten des Prix Ars Electronica in der Kategorie u19 – create your world. Rund um die dann das create your world Festival nach und nach entstanden und 2011 zu einem eigenen Festival im Festival geworden ist. Seither entwickeln wir es stetig weiter, vor allem hinsichtlich der Talentförderung von jungen Menschen, und versuchen, diese bestmöglich in die Ideen und Gedanken von Ars Electronica zu integrieren. Es ist eine Art Vice-Versa Prozess: Einerseits stellen wir eine konkrete Frage beim Prix Ars Electronica – Wie geht es den jungen Menschen? Wie stellen sie sich die Zukunft vor? – und erhalten zahlreiche Antworten in Form von tollen Projekten. Diese nehmen wir wiederum zum Anlass, ein Festival im Festival zu kuratieren, das eine Art alternative Lernplattform darstellt, auch viele Pädagog*innen einlädt und die Ars Electronica als Startpunkt für das neue Bildungsjahr präsentiert. Es gibt zum Beispiel ein Pilotprojekt mit der Kunstuniversität Linz und der Pädagogischen Hochschule, im Rahmen dessen Studierende unterschiedliche Projekte beim Festival ansehen, didaktisch aufbereiten und für Pädagog*innen zur Verfügung stellen. So hat sich create your world also entwickelt – von einer Ausstellung hin zu einer interaktiven Plattform. Lokal sowie mittlerweile international ist es etabliert, dass man bei create your world wirklich ins Tun kommen kann – wir verfolgen ein Open Lab Prinzip. Besucher*innen aller Generationen können sich in diesen offenen Laboren Projekten widmen und sich ausprobieren. Hier darf man auch sagen, dass man noch keine Ahnung von KI etc hat, wir versuchen Leute von Beginn an abzuholen – das adressiert einerseits natürlich Kinder, aber gleichzeitig eben auch Pädagog*innen, die noch Unsicherheiten haben. Wir wollen das ein bisschen ebnen und zeigen, dass alle das gleiche Recht und die Chance haben sollten, neue Technologien, Medien oder Kunstformen aus ihrer Erfahrung heraus (weiter) kennenzulernen.

Wie ist das Motto „truth or dare“ entstanden, wie zeigt es sich unter den Festivalprojekten und steht eher die Wahrheit (truth) oder Pflicht (dare) im Vordergrund?

Hans Christian Merten: Zur Entstehung des Themas muss ich kurz etwas ausholen: Ich habe für das Symposium Perspektiven Politische Bildung, das wir unter anderem am Mittwoch, dem Education Day, veranstalten, den Titel Klebstoff – Unlösbare Konflikte oder sozialer Zusammenhalt vorgeschlagen. Vor allem das Thema Klimakleber*innen polarisiert gerade und wir spielen mit dem Begriff Klebstoff – als etwas Positives, das Dinge zusammenhält, aber auch als etwas, für dessen Lösung man ein spezielles Lösemittel braucht. Ich finde dieses Lösungsmittel für unsere Gesellschaft wirkt wie ein riesengroßes Partyspiel.

Ich begleite create your world schon sehr lange und wir wollten immer jungen Menschen Mut machen, sie motivieren und ihnen unterschiedliche Möglichkeiten aufzeigen. Doch inmitten all der Krisen, besonders zugespitzt durch die Corona Pandemie 2020, musste ich selbst das Wording create your world noch einmal überdenken, damit es nicht zur Farce wird. Wir haben uns intensiv mit Jugendlichen auseinandergesetzt und deren Probleme aufgegriffen, außerdem wird – auch weiterhin – psychologische Beratung beim Festival angeboten. Wir versuchen eine Auffangstation zu sein, andererseits aber trotzdem dieses Lebensbejahende weiterzuführen. Das Thema truth or dare – ein Partyspiel – verdeutlicht die zivilgesellschaftliche Verzweiflung, die daher stammt, dass Machthaber*innen oft willkürlich zu entscheiden scheinen: Heute vielleicht eine sinnvolle Maßnahme, morgen lieber Urlaub auf der Luxusjacht. Man hat nicht das Gefühl, dass der Ernst der Lage erkannt wird, dass endlich etwas passiert. Unter anderem mit create your world umfassend beleuchtet wird die Rolle von demokratischen Prozessen. Im Symposium Perspektiven Politische Bildung, veranstaltet gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule und der Arbeiterkammer Oberösterreich, wird beispielsweise die digitale Bildungsebene als umfassender Fokus behandelt, denn wir brauchen endlich ein funktionierendes Bildungssystem, das jungen Menschen kommuniziert: was ist wahr/was ist fake. Somit wären wir auch wieder beim Wahrheitsthema des Festivals. Momentan hat man den Eindruck, bevor Entscheidungsträger*innen sich der Wahrheit stellen und aktiv werden, wählen sie lieber Pflicht und zahlen Geld als Kompensation. Aber Geld reduziert halt den CO2 Ausstoß nur sehr bedingt, selbst wenn man es richtig einsetzt. Genau das ist die Problematik, durch die es zu diesem Thema gekommen ist.

Symposium Perspektiven politischer Bildung; credit: Pädagogische Hochschule OÖ

Unter den präsentierten Projekten beschäftigt sich zum Beispiel Otelo mit dem Thema Aktivismus. Es geht darum, einen Raum zu definieren: Worauf lasse ich mich ein? Was sind meine Grenzen? Dagegen macht die Kunstuniversität mit ihrem Open Lab ein spannendes Projekt zum Unterschied von Wahrnehmung und Wahrheit. Wieder wird ein spezieller Raum geschaffen – außerhalb dessen kann man sagen, wie man etwas wahrnimmt und wie man den Raum gestalten würde, dann geht man hinein und wird mit der Wahrheit konfrontiert. Die Frage ist: Wie kannst du deine Wahrnehmung mit der Wahrheit in Verbindung bringen?

Welche bekannten Beiträge können Besucher*innen auch dieses Jahr wieder bei create your world erwarten?

Hans Christian Merten: Sehr viele Long Time Players haben wir wieder dabei, was mich sehr freut. So wird eine gewisse Struktur, die man als Besucher*in schon kennt, beibehalten und man bemerkt das Wachsen von create your world. Ein bekanntes Beispiel ist der Verein FAB mit all seinen motivierten Jugendlichen. Sie machen heuer ein großartiges KI-Orakel, wobei es immer stark darum geht, dass die Begegnung mit beeinträchtigten Personen erleichtert werden soll. Außerdem gibt es wieder einen umfassenden elementarpädagogischen Bereich. Hier unterstützt uns die Firma Dynatrace und es wird versucht, Inhalte besonders für Kinder im Alter von 5-10 Jahren verständlich aufzubereiten. Dies ist grundsätzlich eine wichtige Ambition von create your world: das Gesamtwerk der Ars Electronica zu vereinfachen und in eine einfache Sprache zu bringen, damit wirklich alle davon profitieren können. Erneut vor Ort sind auch die Open Commons mit Jugend hackt, welche die Anfänge des Programmierens zeigen.

Auch repräsentiert sind wieder radioFM4, die gemeinsam mit Paradice analoge Spiele im beliebten Spielekammerl zeigt, sowie das roadLAB vom Technischen Museum. Sehr stolz bin ich auch auf Open Kitchen, wo Besucher*innen kostenlos regionale Produkte angeboten werden. Der Ursprungsgedanke ist, es Familien zu ermöglichen, das Festival ordentlich besuchen zu können, ohne viel Geld zusätzlich für Essen und Trinken ausgeben zu müssen. Das macht gute Stimmung und wir haben heuer unter anderem auch wieder den Verein Is nu guat vor Ort, der aus Lebensmitteln, die eigentlich weggeworfen werden, großartiges Essen produziert.

Auf welche neuen Highlights kann man sich freuen?

Hans Christian Merten: Erwähnenswert ist sicher das große Kooperationsprojekt Space Messengers, für das wir mit einer Künstlerin aus New York, Wissenschaftler*innen von CERN und einem Künstler*innenkollektiv aus Wien zusammenarbeiten. Es wird ein visualisiertes, interaktives Projekt gezeigt, bei dem man sich auf unterschiedliche Art und Weise mit Kunst und Wissenschaft auseinandersetzen kann. Besucher*innen haben die Möglichkeit, mit Avataren zu interagieren, hinter denen tatsächlich live ein*e Wissenschaftler*in steckt. Ein spezieller pädagogischer Wert entsteht dadurch, dass eine österreichische Schulklasse und eine aus Portugal es als Vermittler*innen den Besucher*innen erklären. Sounds Queer, großartiges Kollektiv aus Wien – unterstützt von unserem Kooperationspartner Abelton Live -, ist vor Ort, um vor allem auch Frauen, um Menschen mit unterschiedlichsten Ausrichtungen die elektronische Musikproduktion näher zu bringen – eine nach wie vor sehr Männer dominierte Ebene, die wir so aufzubrechen versuchen.

Das heurige Jugendbegegnungsprojekt ist auch durchaus ein Highlight. Es trägt den Titel What if … everything works out?. Das heißt, was ist, wenn alles funktioniert, wenn alles gut geht? Das haben wir eigentlich nie konkret elaboriert. 15 Jugendliche aus ganz Europa machen sich darüber Gedanken und gestalten über den Zeitraum des Festivals ihren eigenen Character. Es handelt sich um Role Play, im Rahmen dessen sie auch sehr stark mit den restlichen create your world Projekten interagieren.

Außerdem gibt es die großartige u19 Prix Exhibition, wo 23 hochqualitative Gewinner*innenprojekte gezeigt werden. Inkludiert sind auch Werke von Jugendlichen, die wir selbst entdeckt haben: Drei junge Künstlerinnen aus Wien machen mit Labanotation ein wahnsinnig spannendes Projekt namens Körper als Medium. Ergebnis ist eine Art Notenschrift für Bewegungen, durch die man dann tatsächlich Bewegungen selbst ausführen kann. Auch erwähnenswert: Ein Werk, eingereicht für den Prix Ars Electronica, haben wir als Basis genommen, um zwei Jugendliche zu beauftragen, wiederum ein neues Projekt für das Symposium Perspektiven Politische Bildung zu entwickeln. Sie machen eine großartige Installation zum erwähnten Klebstoffthema in Form von unterschiedlichen Kurzfilmen – sehr kritisch, zivilgesellschaftlich wahnsinnig relevant und vor allem aus der Perspektive dieser jungen Menschen erzählt.

Körper als Medium; credit: vancura

Die Prix u19 Ausstellung repräsentiert auf gewisse Weise, was die junge Generation bewegt – welche Werke sind dieses Jahr zu sehen und gibt es thematische Schwerpunkte?

Hans Christian Merten: Sehr deutlich erkennbar sind der Ohnmachtszustand und die Wut, die sich bei den jungen Menschen aufbaut, sowie auch die Fassungslosigkeit. Ein bemerkenswertes Projekt ist Meditações. Die Kreator*innen waren in Portugal auf Sprachreise und haben dort einen großartigen Film gedreht, in dem eine Lehrperson gebetsmühlenartig immer das Gleiche sagt: Es geht darum, in den Weg gelegte Steine zu überwinden und nie die Hoffnung zu verlieren. Obwohl ständig alles nicht funktioniert und immer schlimmer, immer trister wird, wiederholt die Lehrperson immer das Gleiche – man verzweifelt beim Anschauen fast mit. Die Goldene Nica wurde für das Werk Verblassende Stimmen vergeben, das wahnsinnig künstlerisch, interessant und auf der anderen Seite auch tragisch ist. Die Worte des eigenen Vaters, der früh verstorben ist, wurden als Waveform auf einen Stoff appliziert. Das ist – ohne zu wissen, was er gesagt hat – künstlerisch sehr spannend, man kann wahnsinnig lange darüber nachdenken und es bringt einem unterschiedliche Wahrheiten für sich selbst. Insofern besteht auch ein Bezug zum Festivalthema, obwohl dieses zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht feststand. Viele Ansätze der Young Creatives bringen auch mich stark zum Nachdenken: das Verantwortungsbewusstsein, die kritische Ansicht, dass es so nicht mehr weitergeht, sinkt altersmäßig immer weiter runter.

„Dass 9-Jährige das Gefühl haben, sie müssen die Welt retten – das geht sich für mich nicht aus.“

Hans Christian Merten

In den Einreichungen des Prix Ars Electronica in der Kategorie u19 – create your world spiegelt sich zum einen ein Verantwortungsgefühl der Jugend wider. Zum anderen adressieren ältere Generationen klar ihre Forderungen, werden dafür aber dann beschimpft. Die Wut, die sich dadurch aufbaut, kann etwas Uneinschätzbares und Gefährliches, aber auch etwas Positives sein, da Missstände aufgezeigt werden. Wichtig ist nur, wie man damit umgeht, wie man Konflikte im Ansatz lösen kann und wie man für sich selbst Möglichkeiten findet, sein eigenes Leben zu gestalten und sich nicht darin zu verlieren, jeden Tag die Welt retten zu müssen. Man kann nicht jeden Tag alles richtig machen. Das create your world Festival bildet ab, dass es immer unterschiedliche Zugänge und Ansätze gibt, sich mit den Problemen, Sorgen, Ängsten, der Menschen zu beschäftigen.

Mehr zu den Highlights des Ars Electronica Festival 2023 findest Du hier. Details werden laufend online veröffentlicht.

Seit 2013 ist Hans Christian Merten Leiter der Initiative u19 – CREATE YOUR WORLD von Ars Electronica. Er studierte Audiotechnik und – Design in Wien und absolvierte diverse Lehrgänge an der Bruckneruniversität Linz. Von 2002 bis 2010 war er Lehrender an der Fachhochschule Hagenberg (Medientechnik und Design) und an der BHS für Kommunikation und Medien in Freistadt. 2010 – 2013 war er künstlerischer Leiter des mehrfach preisgekrönten Festivals „kult – das neue Mühlfestival“ in Freistadt und ist seit 2005 selbständiger Künstler und Leiter des Projektstudios Music for Film & Media in Gutau (OÖ).

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